Brexit-Verhandlungen: London sieht Spielraum für EuGH

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Während May ihre harte Linie betont, bemüht sich ein neues Regierungspapier um eine „konstruktive“ Position in der umstrittenen Gerichtsfrage.

London. Kein Tag vergeht zur Zeit ohne die Veröffentlichung neuer Positionspapiere der britischen Regierung zum Brexit und der Neuregelung der Beziehungen zur Europäischen Union. Dabei rückt die Führung in London immer weiter von bisher dogmatisch vertretenen Positionen ab. Ein gestern, Mittwoch, vorgestelltes Papier stellt nun sogar eine der zentralen Forderungen der Brexit-Anhänger in Frage: Hatte Premierministerin Theresa May in der Vergangenheit mehrfach erklärt: „Brexit bedeutet das Ende der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs“, so spricht ein gestern, Mittwoch, vorgestelltes Dokument nur mehr vom Ende der „unmittelbaren“ Zuständigkeit des EuGH.

Zwar betonte May in ihrem ersten öffentlichen Auftritt nach der Sommerpause gestern: „Wir werden mit dem EU-Austritt die Kontrolle über unsere Gesetze zurückgewinnen“. Doch der Kurswechsel ließ sich selbst von Regierungsmitgliedern nicht leugnen. Justiz-Staatssekretär Dominic Raab, seines Zeichens ein führender Brexiteer, sagte: „Nach dem Brexit wird es zu Divergenzen zwischen dem europäischen und dem britischen Recht kommen, und daher wird es sinnvoll sein, dass wir ein Auge auf das werfen, was der EuGH tut und umgekehrt.“

Das Positionspapier entwirft mehrere Optionen, wie nach dem Brexit Rechtssicherheit für die künftigen Beziehungen zwischen London und den EU-27 geschaffen werden kann. Als eine Möglichkeit werden gemeinsame Schiedsgerichte genannt. „Irgendeine Form der Schlichtung wird es geben müssen“, sagte Raab. Andere Varianten sind gemeinsame Gremien nach Beispiel der Mechanismen zwischen der EU und der Schweiz oder Kanada, die ohne Einschaltung des EuGH operieren.

Abkehr wäre „idiotisch“

Das britische Papier ist „betont konstruktiv“ gehalten, wie ein Regierungsvertreter hervorhob, und unterstreicht: „Großbritannien wird sich positiv engagieren, um einen Mechanismus zur Konfliktbeilegung und Rechtsdurchsetzung zu erarbeiten, der den zentralen Zielen sowohl Großbritanniens als auch der EU entspricht.“ Britische Rechtsexperten sprechen davon, dass der Fortbestand möglichst enger rechtlicher Übereinstimmung für beide Seiten die beste Lösung wäre. Sir Paul Jenkins, der oberste Regierungsjurist (2006-2014), erklärte zuletzt sogar, eine völlige Abkehr vom EuGH wäre „idiotisch“.

Demgegenüber ist ein Ende der Rechtssprechung des Luxemburger EU-Gerichts über Großbritannien für die Brexit-Anhänger eine der absolut zentralen Forderungen. „Unsere Gesetze werden wieder in London, Edinburgh, Cardiff und Belfast gemacht“, versprach May vor einem Jahr dem Tory-Parteitag unter Jubel. Mittlerweile scheinen sich aber Pragmatiker gegen Dogmatiker durchzusetzen.

Der Investor George Soros sagte vor einem Jahr nach der Brexit-Entscheidung: „Die Briten werden aus der EU austreten und einen Tag danach Verhandlungen über den Wiederbeitritt aufnehmen.“ Mittlerweile wollen sie austreten und zugleich dabeibleiben. Ein derartiges „Europa à la carte“ hat Brüssel aber stets ausgeschlossen. Und die Richtung in den Verhandlungen gibt eindeutig die EU vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2017)

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