Warschau fordert das Ende des Vertragsverletzungsverfahrens, doch die EU-Kommission will davon nichts wissen.
Warschau/Brüssel. Die jüngste Maßnahme war wohl eher für das Heimpublikum gedacht: In einem Brief an die EU-Kommission in Brüssel hat die nationalpopulistische polnische Regierung den Stopp des Vertragsverletzungsverfahrens wegen der Nichtaufnahme von Flüchtlingen gefordert. Die auf europäischer Ebene im Jahr 2015 vereinbarte Verteilung von rund 100.000 hauptsächlich aus Syrien und Eritrea stammenden Flüchtlingen von Griechenland und Italien auf die restlichen Mitgliedstaaten der Union sei „falsch“ und bedrohe die Sicherheit, heißt es in dem Schreiben aus Warschau. Innenminister Mariusz Błaszczak, der Absender, verknüpft damit die Flüchtlingsfrage mit der in Europa grassierenden Angst vor dem Terror. „Paris, Stockholm, Brüssel, Berlin, Manchester, Barcelona. Wie viele weitere europäische Städte müssen Terroristen angreifen, damit die Europäische Union aufwacht?“, ließ Błaszczak per Mitteilung wissen.
Auf das Ansuchen aus Warschau folgte umgehend ein kategorisches Nein aus Brüssel. „Eine Möglichkeit, die in Betracht gezogen werden sollte, ist für alle Mitgliedstaaten, dass sie sich an die Entscheidungen halten, die sie getroffen haben“, sagte ein Sprecher der Brüsseler Behörde am gestrigen Donnerstag. Die EU-Kommission habe die Antwort Polens und der anderen betroffenen Staaten (die EU-Klage betrifft auch Tschechien und Ungarn) auf die Vertragsverletzungsverfahren erhalten. Der nächste Schritt sei nun, diese Antworten zu prüfen.
Macht Polens Beispiel Schule?
Bei dem Streit um die Flüchtlingsverteilung handelt es sich allerdings um eine Nebenfront – im Hauptkonflikt geht es um die Rechtsstaatlichkeit in Polen. Die Kommission wirft der Regierung in Warschau vor, die Unabhängigkeit der polnischen Justiz zu untergraben. Bei ihrer letzten Sitzung vor der Sommerpause, Ende Juli, hat die Kommission Polen vier Wochen Zeit gegeben, um die Vorwürfe zu entkräften – sollte Warschau den EU-Forderungen nicht nachkommen (wovon auszugehen ist), droht die Brüsseler Behörde mit der Einleitung des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens gemäß Art. 7 des EU-Gesetzes.
Dass die Kommission nicht nachgeben will, hängt auch mit der Sorge zusammen, das polnische Beispiel könnte in anderen Mitgliedstaaten Schule machen. Diese Angst ist nicht unbegründet: So kündigte der rumänische Justizminister, Tudorel Toader, am Mittwoch eine Reform der Gerichtsbarkeit an, die sich Polen zum Vorbild nimmt. Demnach sollen Gerichtsinspektionen künftig politisch untergeordnet werden können. (ag./red.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2017)