Genau zur nächsten Runde der Brexit-Gespräche bringt die Labour Party Regierungschefin May mit einem Kurswechsel in Schwierigkeiten: Labour will notfalls dauerhaft im EU-Binnenmarkt bleiben.
London. Die britische Regierung gerät mit ihrer Brexit-Strategie nun auch an der Heimatfront unter massiven Druck. Konnte Premierministerin Theresa May bisher jede innenpolitische Kritik an ihrem Zick-Zack-Kurs mit dem Hinweis abschmettern, dass die oppositionelle Labour Party ebenfalls keine klare Linie habe, ist es damit vorbei: „Wir streben nach einer Übergangslösung, in der wir dieselben Bedingungen beibehalten, die wir gegenwärtig in der EU genießen“, schrieb gestern, Sonntag, der Brexit-Sprecher der Partei, Keir Starmer, in einem Beitrag für den „Observer“ – just einen Tag, bevor in Brüssel die Brexit-Verhandlungen in die nächste Runde gehen.
Das bedeutet, wie Starmer selbst in aller Deutlichkeit klarstellte: „Wir wollen in einer Zollunion mit der EU und Mitglied des Binnenmarktes bleiben.“ Die damit entstehenden Verpflichtungen werden von Labour ausdrücklich anerkannt: Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes – inklusive der umstrittenen Personenfreizügigkeit – blieben für Großbritannien weiter in Kraft, London würde weiterhin seine Beiträge in das EU-Budget zahlen und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) anerkennen.
Nicht nur stellt sich Labour eine Übergangsfrist von „bis zu vier Jahren“ vor, die Partei lässt auch die Option offen, „unbegrenzt Mitglied in der Zollunion und dem Binnenmarkt“ zu bleiben. Voraussetzung dafür sei nach Starmer lediglich eine Vereinbarung zu einer Neuordnung der Zuwanderung. Der Plan Labours ist nicht weniger als ein Exit vom Brexit, der pro-europäische „Observer“ sprach gestern in einem Leitartikel bereits von einem „game changer“.
Nachdem die britische Regierung bisher eine kompromisslose Haltung des völligen Bruchs mit der EU vertreten hatte, war diese Position über den Sommer mehr und mehr ins Wanken geraten. Übergangsfristen gelten mittlerweile als offizielle Linie, die aber weiterhin von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Hardlinern und Pragmatikern geprägt wird. Premierministerin May stellt sich in Worten regelmäßig auf die Seite der „hard Brexiteers“, lässt trotzdem zugleich Schatzkanzler Philip Hammond Zugeständnisse an die Anhänger eines weichen Ausstiegs formulieren.
Ratlosigkeit in Londoner Führung
Zweck der Übung ist möglicherweise eine Vorbereitung der Brexit-Wähler darauf, dass der Bruch mit der EU nicht so ablaufen wird, wie man das vor einem Jahr versprochen hatte. In den vergangenen Wochen veröffentlichte die Regierung eine Serie von Positionspapieren, die verschiedene Optionen auflisteten, aber keine Position. Die Ratlosigkeit der Londoner Führung ist klar zu spüren.
Mays Kurs des harten Brexit hat bei der Parlamentswahl im Juni eine klare Abfuhr erhalten. Auch mit Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Party hat sie nur eine hauchdünne Mehrheit im Parlament. Indem Labour sich nun als Partei des „soft Brexit“ positioniert, wird jede Abstimmung für sie zu einer Zitterpartie. Zugleich macht sich die Partei zum Sprachrohr der Wirtschaft, der Städter und der Jugend. Nicht zufällig warf Brexit-Drahtzieher Nigel Farage der Partei gestern „Verrat“ vor.
Geplanter Krach mit Brüssel?
Die erste Nagelprobe steht für die Regierung unmittelbar bevor. Am 7. September steht das EU-Austrittsgesetz zur Abstimmung im Parlament. EU-freundliche Tory-Abgeordnete wie Anna Soubry rufen gleichgesinnte Konservative bereits dazu auf, „die Interessen des Landes über die Interessen der Partei“ zu stellen.
Vor diesem Hintergrund werden heute, Montag, die Brexit-Verhandlungen wieder aufgenommen. Während der britische Außenminister, Boris Johnson, am Freitag signalisierte, dass Großbritannien „selbstverständlich seinen Verpflichtungen nachkommen“ werde, will Londons Verhandlungsführer David Davis die Frage der Austrittszahlungen von angeblich bis zu 100 Milliarden Euro erneut grundsätzlich in Frage stellen. Dabei könnte es sich um geplantes politisches Theater angesichts des massiven Drucks auf die „hard Brexiteers“ handeln: Nichts schweißt die britische Öffentlichkeit so sehr zusammen wie ein Krach tapferer Londoner Unterhändler mit blutdürstigen Brüsseler Eurokraten.
AUF EINEN BLICK
Die Labour Party in Großbritannien hat am Wochenende ihre Politik hinsichtlich eines EU-Austritts radikal verändert: Sie ist nun nicht mehr nur für eine Übergangsfrist, in der die Briten im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben. Sie ist nun auch offen für eine dauerhafte Mitgliedschaft. Das wäre de facto ein Exit vom Brexit. Durch den Kurswechsel von Labour wächst der Druck auf die konservative Regierungschefin Theresa May.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2017)