Ungarns Ministerpräsident Orbán fordert von der Kommission Millionen für seine Grenzzäune. In Brüssel will man davon nichts wissen, zumal Ungarn bereits viel Geld erhält.
Brüssel. Viktor Orbán versucht wieder einmal, in seinem Konflikt mit der Europäischen Kommission um die Verteilung der Lasten des Flüchtlingszustroms innerhalb Europas den Spieß umzudrehen. Wenige Tage vor einem Urteil des Gerichtshofes der EU, welcher voraussichtlich Ungarns Weigerung zur Aufnahme von Asylwerbern eine weitere Abfuhr erteilen wird, provoziert der ungarische Ministerpräsident die Kommission mit einer gesalzenen Geldforderung. In einem Brief an Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verlangte Orbán am Donnerstag die Zahlung von 441,6 Millionen Euro. Das sei die Hälfte der Kosten, welche Ungarn seit Beginn des Flüchtlingsansturms auf Europa vor zwei Jahren für die Sicherung seiner Grenzen habe aufwenden müssen.
„Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Sicherheit der europäischen Bürger von den ungarischen Steuerzahlern finanziert wurde“, heißt es in dem Schreiben, das der „Presse“ vorliegt. „In den beiden vergangenen Jahren hat Ungarn diese unvorhersehbare und wesentliche Bürde fast ganz allein geschultert.“
Orbán führt keine Rechtsgrundlage für sein Begehren an. „Gemäß der ungarischen Position ist es höchste Zeit dafür, dass europäische Solidarität auch im Bereich des Grenzschutzes in der Praxis obsiegt“, schreibt er. „Wir würden es als vernünftig erachten, die Kosten, welche Ungarn entstanden sind, zwischen der Europäischen Union und Ungarn zu halbieren.“ Ungarn habe für den Bau des Zaunes, die Ausbildung und den Einsatz von 3000 Grenzjägern in den aktiven Dienst in Summe umgerechnet 883,2 Millionen Euro ausgegeben.
Ungarn bekommt EU-Hilfe
„Wir finanzieren den Bau von Zäunen und anderen Barrieren an unseren Außengrenzen nicht“, erklärte ein Sprecher der Kommission am Freitag. Sollte Ungarn finanzielle oder organisatorische Hilfe bei der Kontrolle seiner Grenzen benötigen, könne es sie jederzeit beantragen.
Orbán behauptet in seinem Schreiben, er habe „kein einziges Hilfsansuchen“ an die EU gerichtet, als der Flüchtlingsansturm aus dem Nahen Osten heranrollte. Das entspricht nicht den Tatsachen. Erstens stehen Ungarn in der Budgetperiode der Jahre 2014 bis 2020 bereits 93,4 Millionen Euro für Grenzschutzmaßnahmen bereit. Sie müssen bloß von Budapest angefordert werden. Dazu kommen 6,7 Millionen Euro Notfallhilfe. Zweitens hat Ungarn seit dem Jahr 2015 mehrfach von den anderen Mitgliedstaaten Hilfe über den Europäischen Zivilschutzmechanismus angesucht. So lieferten zum Beispiel Bulgarien, Dänemark und Slowenien im September 2015 auf Budapests Gesuch Decken, Bettzeug und Zelte. Drittens unterstützt die EU-Agentur für Grenzschutz Ungarn bei der Überwachung seiner Grenze zu Serbien mit derzeit 18 Grenzbeamten.
„Wir nehmen zur Kenntnis, dass Ungarn jetzt anerkennt, dass Solidarität eine wichtige Grundlage für die Europäische Union ist“, hieß es seitens der Kommission. „Wir sollten nicht vergessen, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist und kein À-la-Carte-Menü, das man für die Grenzkontrolle in Anspruch nimmt, aber zurückweist, wenn es darum geht, Umsiedelungsentscheidungen zu befolgen, die gemeinsam beschlossen wurden.“ Fast wortgleich äußerte sich der Sprecher der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Orbán winkt Abfuhr vor EuGH
Ungarn hat gemeinsam mit der Slowakei beim Gerichtshof der EU gegen die beiden Beschlüsse der Innenminister vom September 2015 geklagt, Asylwerber nach einer einheitlichen Formel und gegen finanzielle Entschädigung binnen zwei Jahren auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Das Urteil wird nächsten Mittwoch veröffentlicht – und, wie die Empfehlungen des Generalanwaltes vom Juli nahelegen, klar gegen die beiden Regierungen ausfallen.
AUF EINEN BLICK
Die Innenminister der EU beschlossen im September 2015 rund 120.000 in Griechenland und Italien gestrandete Asylwerber auf alle Mitgliedstaaten zu verteilen. Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien nehmen daran nicht teil. Die Regierungen Ungarns und der Slowakei haben zudem dagegen beim EuGH geklagt. Dessen Urteil am kommenden Mittwoch dürfte gegen sie ausfallen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2017)