Spiegelfechterei um die Entsenderichtlinie

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort: Was einfach klingt, ist in der Praxis oft unmöglich.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort: Was einfach klingt, ist in der Praxis oft unmöglich.REUTERS
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Die Sozialminister verkeilen sich in einen Kleinkrieg darüber, wie lange Arbeitnehmer entsendet werden sollen. Der Streit entzweit Ost und West, echte Probleme wie Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit bleiben ungelöst.

Nicht einmal jeder hundertste Arbeitnehmer in Europa versieht seine Dienste in einem anderen Mitgliedstaat, und trotzdem verhärtet der Streit über die Entsenderichtlinie eine weitere Front im Verhältnis zwischen den reicheren westlichen und den ärmeren östlichen Mitgliedstaaten der Union. In mehreren Verhandlungsrunden rangen die europäischen Arbeits- und Sozialminister am Montag bei ihrem Ratstreffen in Luxemburg von frühmorgens bis spät in die Nacht um eine Einigung über die Reform dieses Gesetzestextes. Zwischenstand des Tauziehens am Montagabend: nach 18 Monaten Entsendung auf einen Arbeitsplatz im Ausland soll ein Arbeitnehmer nicht mehr in die heimische Sozialversicherung, sondern in jene seines Ziellandes einzahlen. Die Mitgliedstaaten sollen vier Jahre zur Umsetzung dieser Vorschrift erhalten. Offen war vorerst, ob der Transportsektor auch von dieser Richtlinie erfasst werden oder, wie von der Kommission vorgeschlagen, im Rahmen einer Neuordnung der EU-Vorschriften für den Verkehrsmarkt geregelt werden soll.

Scheinunternehmer, Briefkastenfirmen

Wie diese eher begrenzte Spezialfrage des europäischen Arbeitsrechts zu einem politischen Zankapfel werden konnte, ist schnell erzählt: wer für zeitlich befristete Dauer zur Arbeit auf einer Baustelle, in der Fertigung, Altenpflege, in der Logistik oder einer anderen Branche entsendet wird, hat schon gemäß des Wortlautes der 1996 beschlossenen Richtlinie nach denselben Mindestlohnbestimmungen und unter den selben arbeitsschutzrechtlichen Bedingungen beschäftigt zu werden. So ein entsendeter Arbeitnehmer bleibt aber für die Dauer des Auftrages zu Hause sozialversichert. Doch diese Regelung ließ zu viele Schlupflöcher für missbräuchliche Konstruktionen offen, die es ermöglichten, dass Arbeitnehmer aus den ärmeren postkommunistischen Niedriglohnstaaten die westlichen Arbeitskosten deutlich unterboten.

Zudem war der Vollzug dieser Richtlinie nicht gut genug geregelt. Die sogenannte Durchsetzungsrichtlinie, 2014 beschlossen, vermochte das nur ansatzweise zu beheben. Und die Missbräuche sind mannigfach: beginnend bei der Weitergabe von Aufträgen an eine Kette von Subunternehmern, die sich dem Zugriff der Arbeitsinspektorate entziehen, bis zum Entstehen von Briefkastenfirmen in Niedriglohnländern, die dort keine eigenen wirtschaftliche Tätigkeit entfalten, sondern einzig dazu gegründet wurde, um billige Arbeitnehmer nach Westeuropa zu schicken. Vor einigen Monaten erst, berichten französische Diplomaten, habe eine ministerielle Delegation in Warschau die Namen polnischer Rechtsanwälte vorgelegt, an deren Kanzleiadressen Dutzende solcher Scheinfirmen registriert sind. Das Echo der polnischen Regierungsstellen sei eher verhalten gewesen. In Frankreich vor allem wurden die „travailleurs détachés“ zum Symbol eines Binnenmarktes, der unter Aushöhlung hart erfochtener Sozialstandards und Lohnniveaus den Wohlstand untergräbt. Präsident Emmanuel Macron hat die Reform der Richtlinie zur Chefsache erklärt, und die Europäische Kommission hat schon im vorigen Jahr vorgeschlagen, die maximale Entsendedauer auf 24 Monate zu begrenzen (Macron möchte nur zwölf Monate).

EU-Sozialversicherungsnummer fehlt

Das sehen wiederum die östlichen Staaten als Angriff auf eine wichtige Möglichkeit ihrer Bürger, unter Wahrnehmung einer EU-Grundfreiheit im Ausland Löhne zu erzielen, die zwar niedriger sein mögen als dort, aber wesentlich höher als im Osten. Und so steckten die Minister in Luxemburg fest.

Die eigentlichen schwerwiegenden Probleme bei der Entsendung von Arbeitnehmern werden freilich auch in diesem reformierten Gesetzestext nicht gelöst. Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit zum Beispiel ließen sich mit der Einführung einer einheitlichen EU-Sozialversicherungsnummer wesentlich besser bekämpfen. Doch ein entsprechendes Vorbringen von Arbeits- und Sozialkommissarin Marianne Thyssen steckt noch in der Frühphase – und wird nach den Vorhaben der Kommission frühestens nächstes Jahr vorangetrieben werden.

AUF EINEN BLICK

Seit dem Jahr 1996 wird die Entsendung von Arbeitnehmern innerhalb der EU in der Entsenderichtlinie geregelt. Für sie gelten prinzipiell die Mindestlohnvorschriften des Dienstortes sowie die dortigen Arbeitsschutzvorschriften und Urlaubsansprüche. De facto allerdings werden diese Bestimmungen oft missachtet. Die Entsendung von Arbeitnehmern aus Osteuropa ist vor allem in Frankreich zu einem Symbol für die Fehlentwicklungen in der EU geworden. Die Kommission hat vorgeschlagen, dass ab einer Entsendedauer von zwei Jahren die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des Ziellandes gelten. Darüber finden die zuständigen Minister vorerst keine Einigung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2017)

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