EU-Austritt: Briten suchen Ausgang ohne Kompass

Die Ordnung am Trottoir vor der Downing Street 10 täuscht: Die britischen Regierungspositionen zu Europa sind pures Chaos.
Die Ordnung am Trottoir vor der Downing Street 10 täuscht: Die britischen Regierungspositionen zu Europa sind pures Chaos.(c) APA/AFP/ADRIAN DENNIS
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Das Hickhack innerhalb der britischen Regierungspartei ist das Symptom einer tiefer gehenden Malaise: Großbritannien weiß nach wie vor nicht, wohin die Brexit-Reise gehen soll.

London/Wien. Ein Erfolgsergebnis für die Abgeordneten im House of Commons, dem Unterhaus des britischen Parlaments: Die Regierung wird das Abkommen mit der EU über den Austritt aus der Europäischen Union dem Plenum zur Abstimmung vorlegen – das verspricht jedenfalls David Davis. „Ich kann bestätigen, dass wir, wenn wir ein Abkommen erzielen, einen Gesetzesentwurf vorlegen werden, um das Abkommen in Kraft zu setzen“, sagte der für die Brexit-Verhandlungen zuständige Minister Montagabend. Der Zusage vorausgegangen war ein Hickhack zwischen pro- und antieuropäischen Kräften innerhalb der Regierungspartei: Europafreundliche Tories pochten auf Mitsprache der Abgeordneten, während die Brexit-Befürworter vor parlamentarischer Sabotage warnten.

Seit Dienstag wird im Plenum über den Gesetzesakt debattiert, mit dem der geltende EU-Rechtskorpus ins britische Recht übergeführt und so die gesetzgeberische Abhängigkeit von Brüssel beendet werden soll. Um angesichts ihrer schmalen Mandatsmehrheit kein Malheur bei der Abstimmung zu riskieren, musste die Regierung beide Parteiflügel einbinden. Doch beim genauen Hinschauen entpuppt sich Davis' Zugeständnis als illusionär: Sollte das Unterhaus gegen den Brexit-Deal stimmen, wird Großbritannien trotzdem am 29. März 2019 um 23 Uhr Londoner Zeit aus der EU austreten – nur halt ohne das Sicherheitsnetz eines Abkommens, wie der Minister klarstellte. Wer gedacht hatte, das Parlament könne mit dem Votum den Brexit aufhalten, hat sich also getäuscht.

Anhand der Debatte über das Pouvoir des Parlaments zeigt sich, dass die Briten nicht nur einen, sondern gleich zwei blinde Flecken haben, wenn es um den Brexit geht. Sie verwechseln erstens innerbritische Debatten und Kompromisse mit den notwendigen Verhandlungen auf europäischer Ebene. Anders ausgedrückt: Dass das Unterhaus den Brexit nicht mit einem Votum stoppen kann, lag schon vor Davis' Klarstellung auf der Hand. Denn der Austrittsprozess wird nicht durch britisches, sondern durch europäisches Recht geregelt – konkret durch Artikel 50 des EU-Vertrags. Um den Countdown stoppen zu können, müsste das Unterhaus Premierministerin Theresa May dazu verpflichten, in Brüssel einen Stopp zu verlangen – doch dieses Votum stand gar nicht zur Debatte.

„Unsichtbare“ Grenzkontrollen

Blinder Fleck Nummer zwei: Um zu wissen, welche Forderungen man stellen muss, um seine Ziele zu erreichen, muss man zunächst einmal wissen, wohin die Reise gehen soll. Doch die Briten wissen es nicht – was die Causa Nordirland verdeutlicht: Um eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu vermeiden, müssten entweder Nordirland selbst oder Großbritannien als Ganzes im EU-Binnenmarkt bleiben. Ersteres wird von Mays nordirischem Koalitionspartner DUP abgelehnt, die zweite Option von den Tories selbst. Stattdessen bringt London „unsichtbare“ Grenzkontrollen ins Spiel – von denen niemand recht weiß, wie sie funktionieren sollen.

Das Drängen der Europäer auf konkrete britische Stellungnahmen zu den Bedingungen des Austritts bis zum EU-Gipfel im Dezember hat also ein nicht direkt ausgesprochenes Ziel: Die Briten sollen dazu gezwungen werden, zu sagen, welches künftige Verhältnis zu Europa sie haben wollen. Bis dato sind sie dieser Frage elegant ausgewichen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2017)

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