EU ringt um Reform des Dublin-Systems

Flüchtlinge in Griechenland
Flüchtlinge in GriechenlandAPA/AFP/LOUISA GOULIAMAKI
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Das EU-Parlament hat Vorschläge zur Neuordnung von Dublin beschlossen. Die Mitgliedstaaten müssen erst eine gemeinsame Linie finden.

Wien/Brüssel/Straßburg. Dass die Dublin-Regel zur Aufteilung von Flüchtlingen in der EU reformiert werden muss, gilt in Brüssel spätestens seit dem zweiten Halbjahr 2015 als breiter Konsens. Hunderttausende Menschen reisten damals innerhalb weniger Monate über die Mittelmeerländer Griechenland und Italien in andere EU-Staaten – vorwiegend Deutschland, Österreich und Schweden – weiter. Das geltende Recht sieht bis dato eigentlich vor, dass das jeweilige Einreiseland für ein Asylverfahren zuständig ist. Bei großen Fluchtwellen stößt dieses System aber schnell an seine Grenzen, weil es zu einer Überlastung der Mitgliedstaaten an der EU-Außengrenze führt, wo die Unterkünfte ohnehin schon heillos überfüllt sind.

Nun setzt die EU konkrete Schritte zu einer umfassenden Reform des Aufteilungsmechanismus. Am gestrigen Donnerstag stimmte das Europaparlament in Straßburg mit deutlicher Mehrheit für einen Vorschlag, der das sogenannte Erstlandprinzip außer Kraft setzt. Stattdessen muss das Eintrittsland den Flüchtling nur registrieren und ihn einem Sicherheitscheck unterziehen. Dieser sieht einen Abgleich mit dem Schengener Informationssystem (SIS), dem Visa-Informationssystem, Europol und anderen wichtigen EU-Datenbanken vor. Bei bestehendem Sicherheitsrisiko soll das Verfahren prioritär behandelt werden. Jene Asylwerber, die kaum Chancen auf Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben – also als Wirtschaftsflüchtlinge gelten –, werden gar nicht erst in das Programm aufgenommen. Alle anderen sollen nach einem vierstufigen Kriterienkatalog auf die EU-Länder verteilt werden.

Vier Kriterien zur Aufteilung

Dabei wird zunächst geprüft, ob die betreffende Person in einem Mitgliedsland Familienangehörige hat. Ist dies nicht der Fall, kommt Punkt zwei zur Anwendung: Hat der Asylwerber in einem EU-Staat schon einmal ein Visum erhalten oder sich dort legal aufgehalten? Wird auch der dritte Punkt, die Frage nach einer Ausbildung in einem bestimmten Mitgliedsland (diese muss mit einem Zeugnis nachgewiesen werden), negativ beantwortet, greift Punkt vier: Der Flüchtling soll aus den vier am wenigsten ausgelasteten EU-Ländern wählen – und zwar gemäß einem Verteilungsschlüssel, der sich aus Bevölkerung und Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten ergibt. Sobald ein Land 150 Prozent seines errechneten Wertes erreicht hat und ein Asylwerber diesem Land gemäß den ersten drei Kriterien zugeteilt würde, kommt automatisch Punkt vier zum Tragen.

Zudem soll es künftig Konsequenzen für jene Flüchtlinge geben, die sich im Einreiseland nicht registrieren lassen. Sie werden ohne Wahlmöglichkeit dem Land mit der geringsten Auslastung zugeteilt. Heinz Becker, Justiz- und Sicherheitssprecher der ÖVP im Europaparlament, hat zwar noch „Bedenken in vielen Detailpunkten“. Dennoch komme man mit dem Reformvorschlag dem Ziel näher, „fair für die EU-Mitgliedstaaten und sinnvoll für die Asylwerber“ zu handeln. „Wenn Asylwerber vorrangig anhand von persönlichen Anknüpfungspunkten zugeteilt werden, erleichtert das die Integration, wenn sie Asyl oder internationalen Schutz erhalten“, meint der ÖVP-Abgeordnete.

Noch aber müssen auch die Mitgliedstaaten dem Vorschlag zustimmen – und das ist zumindest fraglich. Bisherige Initiativen, eine faire Flüchtlingsverteilung innerhalb der Union zu realisieren, scheiterten stets an unterschiedlichen, oft innenpolitisch motivierten Interessen der EU-Hauptstädte. So lehnen die Visegrád-Länder Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei verpflichtende Quoten ab. Geht es nach Ratspräsident Donald Tusk, soll es bis Mai einen Kompromiss zur Dublin-Reform unter den EU-Staaten geben – dann können auch die Verhandlungen mit dem EU-Parlament beginnen.

Mehr Flüchtlinge in Griechenland

Das Thema Migration wird die Union freilich noch weit länger beschäftigen. Aktuelle Zahlen der Grenzschutzagentur Frontex zeigen zwar, dass bis Ende September dieses Jahres „nur“ 156.000 Flüchtlinge über die vier Hauptrouten (die zentrale, westliche und östliche Mittelmeerroute sowie die Westbalkanroute) nach Europa kamen – und damit um 64 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Zahl der Ankünfte vor allem in Griechenland ist in den vergangenen Wochen jedoch wieder angestiegen, während die Rückführungen in die Türkei trotz des im März 2016 mit Ankara vereinbarten Abkommens nur schleppend funktionieren.

Die Situation in den Camps auf den griechischen Inseln ist indes verheerend, wie Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen im Gespräch mit der „Presse“ beschreibt: „Die Lager sind vollkommen überbelegt, es sind mindestens drei- bis viermal so viele Menschen dort, wie man unter vernünftigen Bedingungen unterbringen könnte. Zudem sind viele Plätze gar nicht winterfest.“ Auch gebe es eine „enorm steigende Anzahl an psychischen Problemen. Es gibt viel mehr Selbstmorde, Selbstmordversuche sowie Selbstverletzungen als noch vor einem Jahr, weil die Flüchtlinge über extrem lange Perioden in den Lagern feststecken“, so Bachmann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2017)

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