Die „Verfluchten“ vom Südsudan

(c) EPA (Khaled El Fiqi)
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Im Südsudan gelten Menschen mit Behinderungen als verflucht, betroffene Kinder werden jahrelang zu Hause versteckt. Die europäische Organisation „Licht für die Welt“ integriert sie in Schulen.

Lakina Lioce wurde jahrelang zu Hause versteckt. Zu groß war die Scham über ihre körperliche Behinderung, zu mächtig die Angst vor den Blicken der Nachbarn. Wie viele andere Südsudanesen ist auch Lakinas Mutter überzeugt, auf ihrer Tochter laste ein Fluch. Vielleicht hatte sie während der Schwangerschaft ein Tabu gebrochen. Vielleicht hatte sie zur falschen Zeit Wasser geholt oder verbotenerweise einen Fluss überquert. Vielleicht kam ihre Tochter deshalb behindert zur Welt.

Lakina lebt im südsudanesischen Bundesstaat Central Equatoria. Die Verhältnisse sind einfach: Die meisten Menschen leben von der Subsistenzwirtschaft, geregeltes Einkommen haben sie keines. Während des jahrzehntelangen Bürgerkrieges flohen die Familien in den Busch, die Schulen wurden zu Militärbaracken umfunktioniert.

73 Prozent sind Analphabeten

Die hohe Analphabetenrate ist nur eine von vielen Folgen des blutigen Konfliktes mit dem Sudan: 73 Prozent der über 15-Jährigen können nicht lesen und schreiben. Heute gehen die Kinder zwar wieder in die Schule, aber viele kriegsversehrte oder nach einer Krankheit behinderte Kinder sind davon ausgeschlossen, weil ihre Eltern sie zu Hause verstecken. Die christliche Organisation Sudanese Evangelical Mission (SEM) hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Kinder zu finden und die Eltern davon zu überzeugen, sie in die Schule zu schicken. Das Projekt wird unterstützt von der europäischen Organisation „Licht für die Welt“.

Auf Lakina stießen die SEM-Mitarbeiter vor drei Jahren. Seit ihre Mutter sie verstoßen hat, lebt die Siebenjährige bei ihrer Großmutter Agiba. Lakinas Eltern waren nicht verheiratet. Nachdem die Mutter ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte, verließ der Vater sie. Mittlerweile ist Lakinas Mutter verheiratet, doch der neue Mann will die Tochter nicht in der Nähe seiner eigenen Kinder haben.
Großmutter Agiba weiß nicht genau, wie alt sie ist. Sie gebar sechs Kinder, vier davon überlebten. Eine Schule hat sie nie besucht. Und doch scheint es ihr wichtig, ihrer Enkeltochter eine Ausbildung zu ermöglichen. „Als Lakina geboren wurde, waren alle sehr unglücklich“, sagt sie. Das Kind hätte sich kaum bewegt, sei nicht herumgekrabbelt wie andere Babys.

Mit dem Rollstuhl in die Schule

Beim ersten Besuch von SEM konnte sie weder sitzen noch stehen, geschweige denn gehen. Heute kommt sie mit ihrer Gehhilfe gut voran. Ihr Rücken ist noch schwach, aber sie hat starke Arme, mit denen sie ihre Gehbehinderung kompensiert. Aufrecht, mit beiden Händen auf die Gehhilfe gestützt und mit einem breiten Grinsen im Gesicht, geht Lakina auf dem kleinen Platz zwischen den Lehmhütten auf und ab, um den Besuchern ihre Fortschritte zu präsentieren. In die nahe Schule will sie mit ihrem Rollstuhl, einem Dreirad, fahren. Nächstes Jahr soll es soweit sein, doch bis dahin muss erst eine Straße gebaut werden. Lakina wartet sehnsüchtig darauf, sie freut sich auf die Schule. „Später“, sagt sie, „möchte ich einmal Lehrerin werden“.

Nicht alle Eltern verstecken ihre behinderten Kinder. Als seine Tochter nach einer Malariaerkrankung nicht mehr gehen konnte, trug Clement Morgan sie den weiten Weg ins nächste Krankenhaus. Damals, Victoria war gerade sechs Jahre alt, herrschte noch Krieg, den Menschen fehlte es an fast allem.

Auch Victoria leidet unter den Folgen einer Krankheit, die durch einfache Gesundheitsversorgung verhindert werden könnte. Nach der Krankheit blieben ihre Beine gelähmt. Sie konnte nicht zur Schule wie die anderen Kinder.

Die Familie lebte weit weg vom nächsten größeren Dorf, abgelegen in den Hügeln. Vor ein paar Jahren zogen sie ins Tal, damit Victoria in die Schule gehen kann. Vor sechs Jahren bekam sie von SEM einen Rollstuhl, seither schafft sie den Weg in die Schule allein. Heute ist Victoria 18 Jahre alt und geht in die sechste Klasse.

Mäntel aus alten Autoreifen

Clement Morgan ist ein engagierter Mann. Geht ein Reifen am Rollstuhl kaputt, repartiert er ihn. Bis die Ersatzteile kommen, kann es Monate dauern. Deshalb bastelt der Vater selbst die Mäntel, näht sie aus alten Autoreifen mit der Hand zusammen. Er ist seit 37 Jahren Lastwagenfahrer und weiß, wie man improvisiert.

Kommendes Jahr will er auch die anderen drei Familien mit behinderten Kindern aus dem Dorf in den Hügeln ins Tal holen, damit auch diese Kinder die Schule besuchen können. „SEM soll auch ihnen helfen“, sagt Clement.
Er ist offensichtlich stolz auf seine Tochter. Victorias Traum ist es, Ärztin zu werden. Ihr Vater hofft, dass der Traum in Erfüllung geht.

Auf einen Blick

„Licht für die Welt“ unterstützt lokale NGOs dabei, behinderte Kinder an den Schulen zu integrieren. 2011 gelang es, 598 Kinder mit Behinderungen einzuschulen und 83 Lehrer auszubilden, um diese Kinder zu begleiten. Das Projekt steht noch am Anfang, Dutzende Lehrer warten darauf, Gebärdensprache und Brailleschrift zu lernen.
Spendenkonto: PSK 92011650, BLZ 60.000

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2012)

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