Nicaragua: Wenn die Schule zu den (Straßen-)Kindern kommt

(c) REUTERS (OSWALDO RIVAS)
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Mit der mobilen Schule haben Kinder aus den ärmsten Vierteln die Möglichkeit, eine Zeit lang aus ihrem harten Alltag auszubrechen.

León. Es ist halb zehn Uhr vormittags in León, der mit rund 150.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt Nicaraguas im Nordwesten. Der Sozialarbeiter Silvio schiebt gemeinsam mit drei Volontären eine eigenartige Konstruktion aus Holz und grünen Schiefertafeln auf den Anhänger eines Pick-ups. Damit fahren sie heute nach Rubén Darío, einem Slum am Stadtrand Leóns, benannt nach dem wohl berühmtesten Autor des Landes.

Nach 30-minütiger, holpriger Fahrt auf staubigen Erdpisten voller Schlaglöcher hält der Pick-up zwischen Hütten aus Wellblech und Plastikplanen neben einem Kinderspielplatz, der aus ein paar rostigen Schaukeln besteht. Noch bevor Silvio und seine Leute aus Österreich und Deutschland die Konstruktion aufbauen können, kommen Kinder aus allen Richtungen herbeigestürmt und umzingeln den Wagen. Einige tragen weder Schuhe noch T-Shirts, alle sind schmutzig von den staubigen Straßen. Aber dieses Gebilde zieht sie an: eine mobile Schule. Eine ausziehbare Tafel auf Rädern, auf der mehr als 300 Lernspiele angebracht werden können, die die Lese- und Schreibfähigkeit, Mathematikkenntnisse und Kreativität der Kinder fördern. Es geht auch um Themen wie gesunde Ernährung, Drogen- und Gewaltprävention, Kinderrechte oder Arbeit auf der Straße.

Rechnen auf dem Gehsteig

Die mobile Schule ist bei den Kindern sehr beliebt. Jede Woche gibt es neue Magnettafeln mit Lernspielen. Hier wird gerechnet, gelesen, geschrieben, gemalt und gespielt. Das Konzept stammt aus Belgien, von der Mobile School NPO, einer Organisation, die Straßenkindern hilft und Streetworker, die mit ihnen arbeiten, ausbildet. Die mobile Schule ist wetterresistent, diebstahlsicher und kann überall schnell aufgebaut werden, auf einem Gehsteig, in Parks oder den erdigen Slums am Stadtrand.

Wie in anderen Ländern der Welt haben viele Kinder in Nicaragua nicht die Möglichkeit, eine normale Schule zu besuchen. Sie kümmern sich um jüngere Geschwister, helfen bei der Feldarbeit oder werden auf die Straße geschickt, um Gemüse und andere Dinge wie selbst gemachten Schmuck zu verkaufen – oder einfach zu betteln. Mit der mobilen Schule besucht man Kinder in den ärmsten Vierteln, um mit ihnen zu spielen und zu lernen. Für viele von ihnen sind die zwei Stunden die einzige Zeit des Tages, in der sie ihrem harten Alltag voller Gewalt und Arbeit entfliehen können.

Das heutige Thema sind Flöhe. Die Kinder beschreiben die Bilder auf den Magnettafeln und sprechen darüber, wie man Flöhe bekämpfen kann. Nach zwei Stunden wird die Schule wieder abgebaut und aufs Auto verladen. Heute wird zum Abschluss noch gemeinsam ein Theaterstück mit selbst gebastelten Figuren aufgeführt und dann kriegt jedes Kind zum Abschied noch eine Orange.

Da tauchen jäh Talente auf

Zurzeit sind 36 mobile Schulen in Lateinamerika, Afrika und Europa im Einsatz. Kinder, die auf der Straße arbeiten, können hier eine Pause einlegen, ihre Waren abgeben und kurz einfach nur Kind sein. Viele tanken Selbstbewusstsein und entdecken ihre Talente. Und: 27 Prozent der Kinder, die durch die mobile Schule betreut werden, besuchen nach einiger Zeit sogar eine offizielle Schule.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2014)

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