La France riecht einfach anders

Blühendes Lavendelfeld
Blühendes Lavendelfeld (c) imago/imagebroker (imago stock&people)
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Frankreich ist eine olfaktorische Nation. Das verankert sich tief, schon in ganz jungen Besuchern.

Es beginnt mit dem Geruch und Geschmack, wenn man erstmals in ein warmes Baguette beißt, und der, würde man Geschmack in Farben übersetzen, dem Erdtönespektrum gleicht. Da ist die blecherne Härte einer Motorhaube, die ebenfalls noch warm ist und, als man sich mit dem riesigen Baguette in den kleinen Kinderhänden draufsetzte, metallisch quengelnd nachgab. Später stehen zwei Menschen auf einem Balkon, rufen überschwenglich und winken. Ein riesiger goldener Engel auf einem Turm, zu dem eine weiße Treppe hinaufführt, während unten das Meer blau schimmert. Weiße Boote in einem Hafen, von beigen Gebäuden gesäumt. Salzige Gischt, das Schiff legt an einer Felseninsel an und Vater, im Dunst von Salz, Schweiß und Rasierwasser, sagt: „Hier war der Graf von Monte Christo eingesperrt".

Die Insel also war die Île d'If mit der Festung vor dem Hafen von Marseilles, wo Alexandre Dumas senior (1802-1870) seinen fiktiven Grafen einkerkerte. Der Engel war die elf Meter große Muttergottesfigur auf dem Kirchturm von Notre-Dame de la Garde auf dem Hügel über der Stadt; die Motorhaube war Schauplatz meines ersten Bisses in ein warmes Baguette und gehörte zu einem beigen 200er-Mercedes anno 1973 oder 1974, dessen Insassen auf der endlosen Fahrt von Bregenz über die Schweiz und das Tal der Rhône an die Côte d'Azur frühmorgens in Grenoble rasteten; die winkenden Leute waren mein Onkel Joseph und meine Tante Elvira in deren Wohnung im Küstenstädtchen Hyères nahe des Kriegshafens von Toulon.

Nebelfetzen von Erinnerungen an schönere Zeiten. Der Autor und sein Vater, Karl, auf der Île d'If vor Marseille, 1973 oder 1974.
Nebelfetzen von Erinnerungen an schönere Zeiten. Der Autor und sein Vater, Karl, auf der Île d'If vor Marseille, 1973 oder 1974.Greber

„Jo" Dionisi, ein Mathematik- und Deutschlehrer aus Korsika, der selbst noch kurz vor seinem Tod 2009 aussah wie Charles de Gaulle in den 1950ern, hatte die schöne Schwester meines Vaters nach dem Krieg als Besatzungssoldat in Vorarlberg in einem Kino in Feldkirch kennengelernt und irgendwann nach Südfrankreich mitgenommen. Daraus entspross ein großer Verwandtschaftszweig. Also würgte mich der erste Schluck Meerwasser als Drei- oder Vierjähriger halt an der Côte d'Azur.

Orangina, Fischsuppe und die Göttin. Der Duft der Macchie, der Geschmack nach Bouillabaisse und der Limonade "Orangina" in diesen kleinen bauchigen Flaschen, die barock tänzelnde Sprache: Frankreich, speziell dessen Süden, hat sich seit dem Biss ins Baguette auf der beigen Motorhaube in mir eingebrannt. Wir fuhren bis Vaters Tod 1982 etwa alle zwei Jahre nach Hyères, er liebte das Essen und den Wein dort, die französischen Alpen und auch Korsikas Berge, sie sind einfach anders als die bei uns. Später wurde der Kontakt spärlicher, aber da war immer irgendeine Cousine, die in Paris oder sonst wo, etwa hoch oben auf einem Alpenpass (diesfalls dem Col du Lautaret) heiratete und tagelanges Feiern erzwang.

Nie fand ich seither bessere Orangenlimo oder eine Gegend, die besser riecht, auch abseits der Lavendelsaison in der Provence, weder im regenfrisch-grünen Südchile, noch in den weiten Apfel-Landschaften Englands, den eukalyptusdampfenden Wäldern Australiens oder sonst wo. Es sind überhaupt die Gerüche und Geschmäcker, die Frankreich stark machen: So auch die der Cassoulets, der Backwaren, der Würste und Pasteten, der mehr als tausend Käsesorten, der Myriaden Weine, der Parfums und der Natur zwischen der butterfetten Normandie und der Rosé-und-Kräuter-getränkten Mittelmeerküste. Eine olfaktorische Nation. Selbst französische Autos riechen anders, und sie sind auch designmäßig immer einen Tick anders. Wo sonst hätten die Citroën-Modelle „2CV", „Dyane" und die „Déesse", die Göttin, entstehen können?

Wenn ich in Vorarlberg, ja noch zu Studienzeiten in Tirol, wegen meiner Franko-Verwandten bisweilen gehänselt wurde - Franzosen würden sich angeblich ungern waschen -, sagte ich: „Depp, du kannst Frankreich bloß net riechen". Die Doppeldeutigkeit hat bei den Klügeren meist gesessen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2017)

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