Nach dem Tod von 71 Menschen in einem Kühllaster auf der Fahrt von Ungarn nach Österreich 2015 startet in Ungarn der Prozess gegen elf Schlepper.
Belgrad/Budapest. Die Hilferufe der in den luftdichten Laderaum des Kühllasters gepferchten Menschen wurden damals gehört, doch blieben unerhört: „Sie schreien die ganze Zeit, du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist“, berichtete der bulgarische Fahrer per Handy den Organisatoren des Todestransports schon bald nach dem Aufbruch aus dem südungarischen Mórahalom nahe der serbischen Grenze am frühen Morgen des 26. August 2015. Er solle die Leute lieber sterben lassen und in Deutschland „im Wald abladen“, als die Tür aufzumachen, kam jedoch die Anweisung des Bandenchefs – eines Afghanen – an den Begleiter des Transports in einem vorausfahrenden „Kundschafterwagen“. „Wenn der hinten die Türe aufmacht, werden alle rauskommen. Sag ihm, er soll weiterfahren.“
Einen Tag später fand die österreichische Polizei die Leichen von 71 Flüchtlingen in dem Kühlwagen, den der Fahrer am Rand der Ostautobahn bei Parndorf (Burgenland) abgestellt hatte. Die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder waren wohl schon in den ersten drei Stunden des fatalen Schleppertransports, noch in Ungarn, erstickt.
Größeres Netzwerk
Fast zwei Jahre später beginnt heute in Kecskemét südlich von Budapest der Prozess gegen elf Mitglieder der mutmaßlich verantwortlichen Schleppergruppe. Sie stammen aus Afghanistan, Bulgarien und dem Libanon und sollen Teil eines größeren Netzwerks gewesen sein, das im Sommer 2015 mindestens 28 weitere Transporte über die ungarisch-österreichische Grenze organisiert haben soll. Neun der Anklagten sitzen schon länger in Untersuchungshaft, gegen zwei weitere wird in Abwesenheit verhandelt. Mit einem Urteil wird erst gegen Jahresende gerechnet.
Den vier wegen Mordes angeklagten Hauptverdächtigen droht lebenslange Haft. Die Protokolle ihrer von ungarischen Ermittlern abgehörten Telefonate lassen kaum Zweifel zu, dass sie den Tod ihrer Kunden in Kauf genommen hatten. Deutsche Medienberichte, wonach die Todesfahrt bei rechtzeitigem Eingreifen der Polizei hätte verhindert werden können, werden von Ungarns Justiz zurückgewiesen. Zwar seien Telefonate der Hauptorganisatoren damals schon gut zwei Wochen abgehört worden – die automatisch aufgezeichneten Gespräche hätten wegen der verschiedenen dabei benutzten Sprachen aber erst übersetzt und ausgewertet werden müssen. „Wenn Ungarns Behörden die Chance gehabt hätten, diese furchtbare Tat zu verhindern, hätte man es getan“, beteuerte Staatsanwalt Gabor Schmidt.
Als man Angela Merkel ignorierte
Auch unter dem Eindruck der just am Tag des Wiener Westbalkangipfels aufgefundenen Opfer drängten hernach die EU, Deutschland und Österreich auf einen besser koordinierten Flüchtlingstransit über die Balkanroute, um Schleppern den Boden für ihre Geschäfte zu entziehen. Doch als nach der faktischen Schaffung eines Flüchtlingskorridors von Griechenland bis Mittel- und Nordeuropa explodierte die Zahl der Asylbewerber bis Herbst 2015 und die Stimmung in Europa begann bald zu kippen.
Also verständigten sich die Anrainer der Balkanroute auf Initiative Wiens – unter Ausschluss Griechenlands und Deutschlands – auf eine Sperre der sogenannten Balkanroute. Im März 2016 wurde der mazedonisch-griechische Grenzübergang bei Idomeni für Flüchtlinge gesperrt.
Die Zahl der Menschen, die trotz Zäunen und Grenzkontrollen fortan über Bulgarien und Serbien herandrängen, hat sich enorm verringert. Allerdings wurde auch wieder das Mittelmeer, vor allem die Route Libyen-Italien, von immer mehr Menschen zu Überfahrtsversuchen nach Europa benutzt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2017)