Türkei: Jugend soll von Darwin ferngehalten werden

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Obwohl türkische Schüler im internationalen Vergleich schlecht abschneiden, streichen türkische Behörden säkulare Inhalte aus dem Lehrplan. Man folgt damit Präsident Erdoğans Aufruf, eine „fromme Jugend“ zu erziehen.

Istanbul. Türkische Schüler schneiden im internationalen Vergleich mit ihren Altersgenossen zunehmend schlechter ab – doch die Regierung setzt nach Meinung von Kritikern nicht auf moderne Bildungsinhalte, sondern auf eine islamisch gefärbte Ideologie. So soll Darwins Evolutionstheorie im kommenden Schuljahr aus den Lehrbüchern für die neunte Schulstufe entfernt werden. Gleichzeitig treiben die Behörden die Einrichtung von muslimischen Gebetsräumen in Schulen voran und verstärken den Kampf gegen angeblich jugendgefährdende und islamfeindliche Computerspiele.

Das türkische Bildungswesen ist schon seit Jahrzehnten ein Schlachtfeld weltanschaulicher Auseinandersetzungen. Bis zur Regierungsübernahme der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2002 waren Schulen und Universitäten im Land strikt laizistisch geprägt; eine der heftigsten gesellschaftlichen Kontroversen drehte sich um das Verbot des islamischen Kopftuchs an Universitäten.

Seither hat die AKP das alte laizistische Establishment entmachtet und strebt nach Meinung von Kritikern eine islamische Ausrichtung des Bildungssystems an. Bereits vor einigen Jahren gab Erdoğan die Losung aus, in der Türkei solle eine „fromme Jugend“ erzogen werden. Türkische Schüler wüssten zwar, wer Einstein sei, könnten aber nichts zu muslimischen Gelehrten des Mittelalters sagen, beklagte er. Erdoğan vertritt auch die These, dass muslimische Entdecker vor europäischen Seefahrern den amerikanischen Kontinent erreicht hätten. Darwins Theorie sei kontrovers, erklärte der Chef der Lehrplanabteilung des Bildungsministeriums, Alpaslan Durmuş. Mit der Reform setzt sich Ankara über den Protest von Akademikern an führenden Universitäten des Landes hinweg, die eine bessere Vorbereitung der Schüler auf das Hochschulstudium fordern. Laut Presseberichten werden auch die Unterrichtseinheiten zum laizistischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gekürzt. Die regierungskritische Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen warf der AKP vor, das Prinzip der Trennung von Staat und Religion in der Türkei systematisch auszuhöhlen.

Bildungssystem „im Koma“

In den regelmäßigen Pisa-Studien der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist die Türkei beim jüngsten Test im Jahr 2015 im Vergleich zu 2012 abgerutscht. Jeder dritte türkische Schüler liegt mit seinen Leistungen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen unter dem Durchschnitt. Die laizistische Oppositionspartei CHP sagt, das türkische Bildungssystem liege „im Koma“. Maßnahmen wie die Entfernung von Darwins Theorie aus dem Lehrplan werden wohl kaum die Trendwende bringen, sagen Kritiker: Neben der Türkei verzichtet demnach nur Saudiarabien darauf, den Kindern die Evolutionstheorie nahezubringen.

Die Entlassungs- und Festnahmewelle seit dem Putschversuch vor einem Jahr trägt ebenfalls zur Bildungsmisere bei. Nach Angaben von Bildungsminister Ismet Yilmaz wurden seit Sommer 2016 mehr als 33.000 Lehrer wegen angeblicher Nähe zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen gefeuert; viele Professoren und Dozenten an den Universitäten wurden im Zuge der Säuberungswelle auf die Straße gesetzt, etliche flohen ins Ausland.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2017)

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