Wirbelsturm „Harvey“ ist nach Louisiana abgedreht. Die Schäden, die er an der Golfküste in Texas angerichtet hat, sind gewaltig und haben Folgen für die ganzen USA. Bisher starben mehr als 30 Menschen.
Washington. Als die Polizisten von Tür zu Tür gehen und die Bewohner seines Stadtviertels auffordern, ihre Häuser zu verlassen, packt Jeremiah Johnson die Babywindeln ein. Der Vater von fünf Kindern – darunter Drillinge von gerade einmal einem Jahr – und seine Frau haben nicht viel Zeit, das Nötigste zusammenzuraffen. Das Wasser um das Haus der Familie in der Nähe des Flusses Brazos südwestlich von Houston steigt rasch. Johnsons fünfjähriger Sohn Justin fragt: „Papa, werden wir jetzt alles verlieren?“
Johnson kann seine Familie unbeschadet in Sicherheit bringen, wie er nach seiner Flucht dem Fernsehsender Fox News berichtet. Wie es in seinem verlassenen Haus aussieht, weiß er nicht. Das Schicksal der Familie Johnson wiederholt sich in diesen Tagen vieltausendfach in der Region um die texanische Metropole Houston und die Golfküste.
1.) Wie ist die Lage im Katastrophengebiet in Texas?
„Harvey“ hat in dem Gebiet teilweise innerhalb weniger Tage mehr als einen Meter Regen pro Quadratmeter niedergehen lassen. Rund 30.000 Menschen sind auf der Flucht, mindestens 30 Todesopfer sind zu beklagen – und es könnten noch weitere in den Trümmern auftauchen. In den eilig eingerichteten Notaufnahmezentren wird es eng; in einem Konferenzzentrum in Houston schlafen die Menschen in den Korridoren, weil in den Sälen längst kein Platz mehr ist. Ein Geistlicher in der Gegend öffnet seine „Mega-Kirche“ mit 16.000 Sitzplätzen für Flutopfer. Ein Matratzenhändler lädt Obdachlose in sein Vorratslager ein.
Mehr als 13.000 Bewohner der Gegend mussten seit dem Wochenende per Boot oder Hubschrauber aus ihren überfluteten Häusern gerettet werden. Rund eine halbe Million Autos sind in den Fluten versunken. Konservative Schätzungen über die Schäden des Sturms und der Überschwemmungen gehen von einem Schaden von mehr als zehn Milliarden Dollar aus, andere reichen bis zu 40 Milliarden Dollar. Möglicherweise werden einige Straßen und Brücken, die dem Druck der Wassermaßen nicht standhalten können, ganz neu gebaut werden müssen.
Noch während die Rettungsaktionen in Houston auf Hochtouren laufen, müssen sich die Behörden mit der Gefahr von Plünderungen und Einbrechern befassen. Bürgermeister Sylvester Turner hat eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Die Polizei warnt vor Kriminellen, die sich als Mitarbeiter des Heimatschutzministeriums ausgeben, Bewohner zum Verlassen ihrer Häuser auffordern und anschließend die leer stehenden Eigenheime ausrauben.
2.) Wohin bewegt sich der Wirbelsturm „Harvey“ nun?
Am Mittwoch traf „Harvey“ an der Küste von Louisiana ein. Dort befürchten manche Bewohner eine Wiederholung der Katastrophe, die sich vor genau zwölf Jahren während des Wirbelsturms „Katrina“ abspielte. Damals starben rund 1500 Menschen, die Großstadt New Orleans glich einem Trümmerfeld.
„Harvey“ machte sich in Louisiana sofort bemerkbar. Mehrere hundert Menschen mussten in der Stadt Lake Charles aus ihren Häusern gerettet werden, die nach schweren Regenfällen in knietiefem Wasser standen. Diesmal sind die Behörden in Louisiana besser vorbereitet als im Jahr 2005. Außerdem hat „Harvey“ auf seinem Vernichtungszug durch Texas schon viel Energie verloren.
Im Verlauf des Wochenendes wird sich „Harvey“ nach Einschätzung der Meteorologen weiter in Richtung Nordosten bewegen, bis nach Kentucky hinein.
3.) Haben die Behörden in den betroffenen Gegenden richtig reagiert?
Wenn in Texas die Pegelstände sinken, werden sich die Behörden der Frage stellen müssen, wie es so weit kommen konnte. Immerhin hatten Wetterdienste schwere Regenfälle in historischen Rekordmengen vorausgesagt – niemand kann sagen, er sei von der schlimmsten Unwetterkatastrophe in Texas seit einem halben Jahrhundert überrascht worden.
Trotz der Voraussagen wurden die Menschen in Houston und im Einzugsbereich des Brazos-Flusses zunächst zum Verbleib in ihren Häusern aufgerufen. Als das Wasser dann immer weiter anstieg, ergingen Evakuierungsbefehle – doch bis dahin waren viele Fluchtwege bereits überflutet. In den kommenden Wochen und Monaten wird die Frage diskutiert werden, ob viel Leid und viele Schäden durch eine vorzeitige Räumung hätten verhindert werden können.
4.) Wie geht es nun weiter in dem Katastrophengebiet?
In den gebeutelten Küstenabschnitten von Texas beginnt inzwischen das Nachdenken über die Zeit nach „Harvey“. Viele Hausbewohner, die bei den Überschwemmungen alles verloren haben, besitzen keine Versicherung gegen Sturmschäden und stehen vor dem finanziellen Ruin. Die US-Ölindustrie ist durch die Schließung von Raffinerien und Häfen getroffen. Zwar sind die Texaner stolz auf ihre Heimat, auf ihren Zusammenhalt und ihren Willen zum Durchhalten – doch „Harvey“ hat ihren Bundesstaat so hart getroffen, dass nach dem Wirbelsturm nichts mehr so sein wird wie vorher.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2017)