Türkei: Hoffnung für mehr als 100 Journalisten in Haft

Kommen nun auch noch andere Journalisten frei?
Kommen nun auch noch andere Journalisten frei?APA/AFP/OZAN KOSE
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Das Verfassungsgericht ordnete in einer Grundsatzentscheidung die Freilassung von zwei türkischen Kolumnisten an, die seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft sind. Die Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdoğan toben.

Istanbul. Mit einer Grundsatzentscheidung zur Inhaftierung von Journalisten hat das türkische Verfassungsgericht am Donnerstag der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Niederlage beigebracht und die Hoffnung auf Freilassung des deutsch-türkischen Reporters Deniz Yücel verstärkt. Der mit einer Mehrheit von elf zu sechs Richtern gefasste Beschluss ordnet die Freilassung von zwei türkischen Journalisten an, die seit Langem in Untersuchungshaft sitzen. Yücels türkischer Anwalt sagte zur „Presse“, er hoffe nun auf Freilassung aller der mehr als 100 inhaftierten Journalisten in der Türkei.

Das Verfassungsgericht hatte sich nach langem Zögern mit den Fällen der Journalisten befasst, um einem in Kürze erwarteten Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichts in Straßburg zuvorzukommen. Die türkischen Richter entschieden, dass der Staat die Grundrechte der Inhaftierten verletzt habe. Das Gericht ordnete die Freilassung von zwei Kolumnisten an: Şahin Alpay, der bereits seit Juli 2016 hinter Gittern sitzt, und Mehmet Altan, der im September 2016 in Haft kam. Auch der Klage von Turhan Günay, einem dritten Journalisten, der wegen seiner vorübergehenden Inhaftierung geklagt hatte, wurde stattgegeben. Anders als Alpay und Altan ist Günay aber bereits auf freiem Fuß.

Kommt auch Deniz Yücel bald frei?

Die Entscheidung ist ein Rückschlag für die Regierung, die den Journalisten staatsfeindliche Umtriebe vorwirft. Nun wird mit Spannung erwartet, ob auch andere Inhaftierte freikommen. Yücels Anwalt Veysel Ok sagte der „Presse“ in Istanbul, er hoffe darauf, dass der Beschluss als Präzedenz-Urteil für andere Fälle wirken werde. Da er das schriftliche Urteil noch nicht gelesen habe, könne er jedoch nichts zu möglichen Folgen für Yücel sagen. Wann eine Entscheidung über Yücels Verfassungsbeschwerde fallen werde, sei offen. Yücel sitzt seit knapp einem Jahr ohne Anklage in Untersuchungshaft.

Anhänger Erdoğans kritisierten die Entscheidung scharf. Der Beschluss sei ein Sieg für die Bewegung des Predigers und Erdoğan-Rivalen Fethullah Gülen, der von der Regierung als Drahtzieher des Putschversuches von 2016 gesehen wird. Vielen inhaftierten Journalisten wird eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Die Untersuchungshaft für die Beschuldigten wird mit dem Verdacht auf Terrorvergehen begründet, was von Kritikern als Versuch zur Unterdrückung der freien Rede gesehen wird.

Türkische Regierungsgegner sehen das Verfassungsgericht als letztes wirksames Gegengewicht zur Macht des Präsidenten und der Staatsgewalt. Nur zwei Tage vor der Entscheidung zu den inhaftierten Journalisten hatten die obersten Richter der Verfassungsbeschwerde eines Opfers von Polizeigewalt stattgegeben und ein strafrechtliches Verfahren gegen die gewalttätigen Beamten ermöglicht. Allerdings werfen Kritiker den Richtern insbesondere seit dem Putschversuch von 2016 vor, bei der Kontrollaufgabe meistens zu versagen. So betont das Gericht, es habe keine Befugnis, die Verfassungsmäßigkeit von Erdoğans Dekreten zu prüfen, mit denen der Präsident unter dem derzeitigen Ausnahmezustand viele wichtige Weichenstellungen vornimmt.

Spiegel der gespaltenen Gesellschaft

In der Mehrheitsentscheidung vom Donnerstag spiegelten sich die politischen Differenzen in der Türkei wider. Von den 17 Mitgliedern des Verfassungsgerichts wurden acht von Erdoğans reformfreundlichem Vorgänger, Abdullah Gül, ernannt und drei von dem säkularistischen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer Mitte des vergangenen Jahrzehnts: Möglicherweise waren dies die insgesamt elf Richter, die am Donnerstag für die Freilassung der Journalisten stimmten.

Die sechs Gegenstimmen kamen womöglich von Erdoğans Favoriten: Er hat drei Richter zum höchsten Gericht geschickt, zwei davon nach dem Putschversuch von 2016. Weitere drei Richter wurden vom Parlament bestimmt, das von Erdoğans Regierungspartei, AKP, dominiert wird.

Schon in Kürze könnten sich die politischen Gewichte am höchsten Gericht zu Erdoğans Gunsten ändern. Im Laufe dieses Jahres gehen zwei Verfassungsrichter in Pension; die Nachfolger werden von Erdoğan ausgewählt. Nach dem von Erdoğan angestrebten Übergang zum Präsidialsystem sollen die Zahl der Verfassungsrichter auf 15 gesenkt und die Befugnisse des Staatsoberhaupts bei der Richterauswahl erweitert werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2018)

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