Karunakara: "Du darfst niemals Partei ergreifen"

(c) Clemens Fabry
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Während seines Medizinstudiums in Indien hat Unni Karunakara festgestellt, dass es ihm zu wenig sein würde, einfach nur als Arzt zu arbeiten: Er wollte bei "Ärzte ohne Grenzen" anheuern. Heute ist er ihr Präsident.

Bedauern Sie, dass die repräsentativen Aufgaben als Präsident von „Ärzte ohne Grenzen“ Sie von Ihrer ursprünglichen Arbeit abhalten: als Arzt, Menschen in Not zu helfen?

Unni Karunakara: Auf jeden Fall. Auch in meiner jetzigen Arbeit sind die besten Momente, wenn ich wieder ins „Feld“ komme und dort mit den Menschen reden kann. Erst letzte Woche war ich im Kibera-Slum von Nairobi. In solchen Momenten realisiert man dann wieder, warum man eigentlich diesen Job macht. Wenn man den Kontakt zum „Feld“ verliert, wird es einfach ein politischer Job ohne rechten Zweck.

Erinnern Sie sich noch daran, als Sie die drei Buchstaben MSF zum ersten Mal hörten?

Und wie! Ich studierte gerade Medizin in Indien, das muss 1984 oder 1985 gewesen sein. Auf BBC wurde darüber berichtet. Wir haben damals viel „BBC World Service“ gehört, es gab ja noch kein Internet, und auch das Fernsehen war in Indien noch nicht so verbreitet. Ich dachte mir: Wow, das ist genau das, was ich machen will und schrieb an die BBC. Die gaben mir die Adresse von MSF. Ich schickte dann einen Brief an deren Büro in Paris und sagte, dass ich für sie arbeiten wolle, habe aber nie eine Antwort bekommen. Zehn Jahre später traf ich durch puren Zufall auf dem Brüsseler Flughafen jemanden von MSF. So kam ich schließlich in Kontakt, und 1995 wurde ich auf meine erste Mission nach Äthiopien geschickt.

Warum wollten Sie unbedingt zu MSF?

Ich hatte eine Ausbildung zum Radiologen begonnen und wäre um ein Haar sogar in Wien gelandet. Ich war aber nicht wirklich glücklich damit, weil es eine ziemlich technische Angelegenheit ist. Irgendwann habe ich es dann sein lassen und lieber „öffentliche Gesundheit“ studiert. Das hat mir die die Augen geöffnet für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen von „Gesundheit“.

Bei MSF ging es mir einfach darum, meine Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen. Ich hatte damals die eher naive Vorstellung, es würde reichen, einfach wo hinzufahren und zu helfen. Über die Jahre realisiert man, dass das nicht genug ist. Man muss die Leute mit Würde behandeln, die Arbeit muss eine hohe Qualität haben. In Indien ist der Standard der Gesundheitsversorgung vergleichsweise hoch, obwohl es ein armes Land ist. Diesen Standard konnte ich zu Beginn meiner Arbeit an vielen Einsatzorten nicht bieten.

Trotz der Armut in Ihrer Heimat gab es also im Ausland, mehr zu tun?

Ich habe mich nie besonders darum gekümmert, wo ich gerade arbeitete, solange die Patienten etwas davon hatten, dass ich vor Ort war. Wie jeder junge Mensch wollte ich einfach etwas von der Welt sehen. Und diese Art von Arbeit ermöglichte mir auch, das zu tun. Und noch etwas: Man sieht oft die Probleme vor der eigenen Haustür nicht. Jetzt, nachdem ich viel herumgekommen bin, sehe ich auch in Indien viele Dinge klarer. Es hilft, die Probleme der Menschen daheim zu erkennen. Probleme, um die man sich oft nicht kümmert, vielleicht, weil sie eben immer schon irgendwie da waren.

Haben Sie den Wunsch zu helfen von Ihrer Familie mitbekommen?

Ich stamme aus Kerala, dem südlichsten Bundesstaat Indiens. Kerala hat 100Prozent Alphabetisierung – und im Gegensatz zum Rest Indiens eine sehr niedrige Kindersterblichkeit, fast auf europäischem Niveau. Das soziale Bewusstsein in meiner Heimat ist viel stärker ausgeprägt als in anderen Landesteilen, und die Gesellschaft ist sehr politisiert. Sie sind vielleicht nicht mit den Wiener Kaffeehäusern vergleichbar, aber die Teehäuser in Kerala sind ein Ort, an dem sich alle politischen Debatten abspielen, wo gestritten wird. Es ist eine sehr anregende und intellektuell stimulierende Atmosphäre.

Gehen wir zurück nach Äthiopien: Hat Ihr erster Einsatz, 1995, einen starken Eindruck bei Ihnen hinterlassen?

Damals kamen viele Flüchtlinge aus Somalia in den Osten Äthiopiens. Riesige Flüchtlingslager, groß wie Städte, schossen wie Pilze aus dem Boden. Ich sollte ein TBC-Programm in der Kleinstadt Jijiga aufzubauen. Es war eine sehr entlegene Gegend, und ich brauchte einige Wochen, um mich an die Hitze und den Sand zu gewöhnen. Damals wurde man einfach runtergeschickt mit dem Auftrag, dies oder jenes zu tun. Heute haben wir technische Experten, die die Leute im „Feld“ unterstützen, das gab es damals in der Form nicht. Und es gab keine E-Mails.

Es bereitete Sie also niemand darauf vor, was Sie am Einsatzort erwarten würde.

Nun, ich hatte so meine Vermutungen. Aber abgesehen davon: Dieser Einsatz war eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Ursprünglich dachte ich ja: Okay, ich mache das jetzt ein Jahr lang und schließe dann meinen Master ab, hänge vielleicht noch ein Doktorat an. Dann hängte ich noch ein Jahr an, und jetzt, 15Jahre später, bin ich noch immer bei MSF. Ich wurde sozusagen „angesteckt“, es hat meine Ansichten über das Leben ziemlich stark verändert. Für mich wäre es schwierig gewesen, zurückzukehren und in einem reichen Land im Krankenhaus zu arbeiten.

Die Zahl humanitärer Organisationen scheint täglich zu wachsen. Was macht eine NGO zur einer guten NGO?

Das zu beurteilen steht mir nicht zu, ich kann nur beurteilen, ob es sich tatsächlich um humanitäre Hilfe handelt. Es ist jedenfalls gut, dass immer mehr Leute bereit sind, in entlegene Gebiete zu gehen, um zu helfen. Aber um ein „humanitärer Helfer“ zu sein reicht es nicht, einfach irgendwo Medikamente zu verabreichen. Es geht darum, Hilfe völlig unparteiisch zu leisten, ausschließlich an den Bedürfnissen orientiert, nicht aufgrund politischer oder religiöser Erwägungen. Nicht deshalb, weil uns zum Beispiel die österreichische Regierung Geld gibt,...

Tut Sie das denn noch?

...um an einem bestimmten Ort zu helfen. Nie Partei ergreifen, das ist extrem wichtig. Du bist dort, und du hilfst jenen, die von einem Konflikt in Mitleidenschaft gezogen werden.

Kann man sich in einem Krieg oder Konflikt überhaupt völlig neutral verhalten?

Das ist in der Tat extrem schwierig. Denn als Individuum habe ich natürlich eine Meinung. Manchmal komme ich an einen Ort und sehe, dass eine Gruppe Gräueltaten an einer anderen begeht, und ich denke mir: Diese sind die Täter, jene die Opfer. Aber das ist meine persönliche Meinung. Als humanitäre Organisation muss man trotzdem neutral sein. Sobald du Partei ergreifst, wird es problematisch. Manche nimmt man als „Gute“ wahr, andere als „Böse“, aber für uns geht es darum, Zugang zu den Hilfsbedürftigen zu bekommen.

Österreich hat die staatliche Entwicklungshilfe auf 0,3Prozent des BIPs gesenkt; versprochen sind 0,7Prozent bis 2015. Die jüngsten Kürzungen wurden mit Sparnotwendigkeiten begründet. Ist das für eines der reichsten Länder moralisch haltbar?

Wir müssen uns bewusst, sein: Was irgendwo auf der Welt passiert, ist heute unser gemeinsames Problem. Entwicklung oder Hilfe in einem Teil der Welt ist auch gut für Österreich. Es wäre sehr kurzsichtig, Probleme isolieren zu wollen und zu sagen: Das betrifft uns nicht. In diesem Zusammenhang ist es auch inakzeptabel, dass Österreich den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose überhaupt nicht unterstützt. Reiche Länder haben eine Verantwortung.

Liegt es nur an den Sparpaketen oder schwindet der Solidaritätsgedanke an sich?

Schwer zu sagen. Aber ich glaube, dass die finanzielle Situation oft als Ausrede benützt wird. Vor einigen Tagen habe ich gelesen, dass die britische Regierung trotz eines großen Sparpakets die Entwicklungshilfe sogar erhöht.

Als Sie an die Spitze von MSF gewählt wurden, gerieten Sie plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit. Fühlen Sie sich wohl dabei?

Nichts, was ich bisher gemacht habe, ist mit dieser Position vergleichbar. Man muss sich erst ein wenig daran gewöhnen: Man reist sehr viel, hat öffentliche Auftritte, Interviews.

Zieht es Sie nach Ihrer Zeit an der Spitze von MSF wieder ins „Feld“ zurück?

Aber ja, ich gehe sicher wieder zurück. Das ist ja das Tolle bei MSF: Man kann den ganzen Weg zur Chefetage zurücklegen – um nachher wieder in anderer Position zu arbeiten, die ich gar nicht als Low Level bezeichnen würde, weil es eigentlich die wichtigste Arbeit ist. Aber man bekommt weniger bezahlt, und das zeigt, dass es den Leuten nicht um Geld oder eine Position geht, sondern um die Sache.

Vor 46 Jahren wurde Unni Karunakara in Kuwait geboren. Aufgewachsen ist er allerdings im Bundesstaat Kerala, Indien.

1995 heuerte der in Indien und den USA (Yale und Johns Hopkins University) ausgebildete Arzt bei „Ärzte ohne Grenzen“ an und absolvierte seinen ersten Einsatz in Äthiopien.

Karunakara absolvierte in der Folge zahlreiche Auslandseinsätze, darunter in Aserbaidschan, Brasilien oder der Republik Kongo. Neben den Einsätzen im „Feld“ war er bei MSF unter anderem federführend an der Kampagne für einen Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten beteiligt.

Ende Juni 2010 wurde er für eine dreijährige Amtsperiode zum neuen internationalen Präsidenten von „Ärzte ohne Grenzen“ gewählt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2010)

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