Titanic: Das Kind, das keiner kannte

Titanic Kind keiner kannte
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50 Kinder schafften es nicht mehr in die Rettungsboote, als die Titanic in der Nacht auf den 15. April 1912 versank. Die meisten wurden nie geborgen, eines aber fand man tot an der Wasseroberfläche treibend.

Es ist eine gespenstische Szene, die sich am Sonntag, 21. April 1912, sechs Tage nach dem Untergang der Titanic abspielt: Inmitten von Wrackteilen dümpelt die Leiche eines kleinen Buben. Die Besatzung des Kabelschiffes „Mackay-Bennett“, das die Titanic-Reederei White Star Line zur Bergung der Opfer gechartert hat, ist auf einiges vorbereitet. Man hat Särge an Bord genommen und säckeweise Eis zur Kühlung der Leichen. Doch das hier ist zu viel.

„Der Körper trieb an dem Boot entlang, zärtlich nahmen die Retter ihn an Bord. Der Anblick des mit dem Gesicht nach oben treibenden Jungen ließ vielen der harten Seemänner die Tränen in die Augen steigen“, schreibt die Zeitung „Morning Chronicle“ aus Halifax am 1. Mai. Der Junge, dessen Geheimnis erst 94 Jahre später gelüftet werden soll, ist der vierte Tote, der an Bord genommen wird. Insgesamt werden es über 200 Titanic-Opfer, die bei der Bergungsaktion in die kanadische Stadt Halifax gebracht werden.

Doch keines der nicht identifizierten Opfer sorgt für so viel Anteilnahme wie dieser Bub, über den der Leichenbeschauer notiert: „No. 4 – männlich – geschätztes Alter 2 – blonde Haare. Kleidung: grauer Mantel, Fell an Kragen und Ärmeln, brauner Gehrock, Unterrock, Flanell-Kleidung, pinkfarbenes Wollunterhemd, braune Schuhe und Kniestrümpfe. Keine anderen Anzeichen, wahrscheinlich dritte Klasse.“

Mehr nicht. Die Mutter hat ihren Sohn wohl so warm eingepackt in der Unglücksnacht. Die Besatzung der Mackay-Bennett legt einen Schwur ab: Sollte niemand Anspruch auf diese Kinderleiche erheben, würde man sich um die Beisetzung kümmern.

In Stein gemeißelt. „Der Bub war das einzige Kleinkind, das tot geborgen wurde“, sagt Glenn Taylor. 100 Jahre, nachdem das damals größte Schiff der Welt, die RMS Titanic, die im Duktus des Fortschrittglaubens als unsinkbar galt, im Nordatlantik einen Eisberg rammte und zwei Stunden und 40 Minuten später sank, steht der Touristenführer vor einem Grabstein auf dem Fairview-Lawn-Friedhof in Halifax. „Aufgestellt in Erinnerung an das unbekannte Kind, dessen Überreste geborgen wurden nach dem Untergang der Titanic am 15. April 1912“, ist eingemeißelt. „Die Leute legen heute noch Stofftiere, Spielzeug und Münzen hier nieder, und kein Obdachloser würde es wagen, etwas zu stehlen.“

Der Stein zeugt davon, dass die Crew der Mackay-Bennett ihren Schwur einlöste. „Sie kaufte einen schönen Sarg und diesen Grabstein und war geschlossen beim Begräbnis dabei“, sagt Taylor.

Die Hafenstadt Halifax in Kanadas Provinz Neuschottland ist heute Pilgerort für Titanic-Interessierte aus aller Welt. Hier liegen 150 der Opfer begraben, die meisten auf dem Fairview-Lawn-Friedhof, zu dem Taylor auch heute eine Busladung Touristen begleitet hat. Halifax wurde zum Zentrum der Bergungsaktivitäten bestimmt, weil es den dem Unglücksort nächstgelegenen Festlandhafen hatte und an das Bahnnetz angeschlossen war. Angehörigen sollte es mit der Rückführung so einfach wie möglich gemacht werden.

Das Gästetrüppchen hat sich um die 121 gleichförmigen Grabsteine gruppiert. Taylors Tonfall ist fast pastoral, als er vor einem anderen Grab innehält: „Ich möchte Ihnen diesen Gentleman vorstellen: Steward William Denton Cox.“ Er sei es gewesen, der ein ums andere Mal runter in den Schiffsbauch der Titanic gestiegen sei, um Passagiere der dritten Klasse an Deck zu holen.

(c) Die Presse / GK

Wie Historiker vermuten, war es jener Steward Cox, der auch eine Schwedin namens Alma Pålsson in ein Rettungsboot setzen wollte. Mit ihren vier Kindern erreicht sie das Deck aber erst, als alle Rettungsboote schon zu Wasser gelassen sind und die Titanic in bedrohlicher Schieflage in den spiegelglatten Ozean sticht. Pålssons Sohn Gösta wird offenbar von einer Welle über Bord gerissen, er, seine Geschwister und die Mutter überleben die Tragödie nicht. Alma Pålsson wird vier Tage nach dem Begräbnis des unbekannten Kindes bestattet – in direkter Nachbarschaft zu dessen Grab. Denn zwischenzeitlich glaubt die White Star Line, anhand von Passagierlisten das Kind als Gösta Leonard Pålsson identifiziert zu haben. Doch das stimmt nicht.


Namen für die Namenlosen. Um die Wahrheit ans Licht zu fördern, wäre Alan Ruffman fast zu spät gekommen. 89 Jahre nach dem Untergang erhält der Forscher 2001 gemeinsam mit Ryan Parr, einem außerordentlichen Professor an der Lakehead Universität in Ontario, eine Sondergenehmigung. Um doch noch die Namen nichtidentifizierter Opfer herauszufinden, öffnen sie mehrere Gräber, darunter auch das des unbekannten Kindes. Doch zu sehr ist die Verwesung fortgeschritten. Aus einer schlammigen Masse bergen sie letztlich ein sechs Zentimeter langes Knochenfragment eines Unterarms und drei Zähne für eine DNS-Analyse.

Ruffman, ein hagerer Mann mit nervösem Blick, sitzt im Keller einer Studentenkneipe in Halifax. „Mein Job war es, die direkten Nachfahren der sechs Kinder zu finden“, erzählt Ruffman. Denn sechs der kindlichen Opfer, von denen die Forscher wussten (und von denen fünf nicht geborgen wurden), kamen nach ersten Untersuchungen in Betracht. Neben Pålsson waren dies: ein fünf Monate alter schwedischer Bub, ein zwei Monate älterer Engländer, ein gut 2,5 Jahre alter Bub aus dem US-Staat Washington sowie Sidney Leslie Goodwin, 19 Monate, aus England, und der Finne Eino Viljami Panula, 13 Monate.

Um DNS-Proben der Angehörigen zu bekommen, macht sich Ruffman vor elf Jahren auf eine Reise durch Europa. Er ergattert sogar die Blutprobe eines über 100-Jährigen. Anhand der Vergleiche sogenannter mitochondrialer DNS (mtDNS) muss Gösta Pålsson im Frühjahr 2002 von der Liste gestrichen werden. Im Sommer desselben Jahres beteiligen sich Zahnmediziner aus Toronto an dem Puzzle. Sie finden in den ausgegrabenen Zähnen sehr gut erhaltene mtDNS, aber keine Übereinstimmung bei den Nachfahren des Briten und des Schweden. Schließlich entdecken die Forscher Dopplungen in einem speziellen Bereich der mtDNS, einer der sogenannten „hypervariablen Regionen“, mit den Proben der Panula-Nachfahren. Den älteren Goodwin schließen sie aus, weil sie die Zähne zunächst einem neun bis 15 Monate alten Kind zurechnen.

Am 6. 11. 2002 geben Ruffman und Parr bekannt: Eino Viljami Panula aus Ylihärmä in Finnland ist das unbekannte Kind. Die Nachricht geht um die Welt. Sie stimmt aber wieder nicht.

„Wir hatten nicht in Betracht gezogen, was die Forschung mittlerweile herausgefunden hatte“, sagt Ruffman. Nämlich, dass viele männliche Nordeuropäer eine solche Übereinstimmung innerhalb der mtDNS haben. „So lag die Chance, dass wir das Kind richtig identifiziert hatten, nur noch bei 50:50.“

Das Geheimnis der Lederschuhe. Im gleichen Jahr taucht ein Paar verwitterter brauner Lederschuhe auf, die die Zweifel verstärken. Die Geschichte des geheimnisvollen Schuhwerks kennt Bob Corkum, der Gäste regelmäßig durch die Titanic-Ausstellung im Maritime Museum of the Atlantic in Halifax führt. „Den Leuten stehen regelmäßig die Tränen in den Augen, wenn ich ihnen von der Titanic erzähle – als wären ihre Verwandten an Bord gewesen.“

1912 werden die Habseligkeiten der Titanic-Opfer verbrannt, um Souvenir-Jäger loszuwerden. Die Aktion wird von der Polizei überwacht. Clarence Northover, ein Sergeant, bringt es aber nicht übers Herz, die kleinen Schuhe den Flammen zu übergeben. So gehen sie in den Hausrat der Northovers über. 2002 stiftet ein Enkel des Sergeants das Paar dem Museum, wo sie hinter Glas betrachtet werden können. Dort ist man sich nach dreijähriger Überprüfung sicher: Es sind die Schuhe, die schon 1912 der Leichenbeschauer von Körper No. 4 erwähnte. Denn einzelne Kleidungsstücke hatte die Mackay-Bennett nicht an Bord genommen.

Ruffman und Parr sehen sich in einer Zwickmühle: Stimmt die Erkenntnis der Museumsexperten, muss Eino Viljami Panula viel zu große Schuhe angehabt haben, denn das Museumspaar ist viel größer als für ein 13 Monate altes Kind. Schließlich konsultieren sie das „Armed Forces Identification Laboraty“ in Rockville (Maryland), eine Organisation, die sich mit der Identifizierung von im Zweiten Weltkrieg Gefallenen befasst. Mit einer genaueren Methode kommen die US-Experten zum Schluss: Der mit 19 Monaten gestorbene Sidney Leslie Goodwin, geboren am 9. September 1910 in England, muss das unbekannte Kind sein. Ihm hätten auch die Schuhe gepasst.

Versunkener Traum vom Neubeginn. Am 10. April 1912 gingen die Goodwins an Bord der Titanic. Die Familie, neben den Eltern und Sidney Leslie seine fünf älteren Brüder, wollte auswandern. Vater Frederick hatte nach Quellenlage der Webseite encyclopedia-titanica.org einen Job in einem neuen Wasserkraftwerk in Niagara Falls im US-Staat New York in Aussicht.

Die Goodwins hatten eigentlich auf einem kleineren Dampfschiff gebucht, das aber wegen eines Streiks Southampton nicht verlassen konnte. Sie wurden auf die Titanic umgebucht. Die ganze Familie starb beim Untergang, und mit ihr 1500 weitere Passagiere. Samt Besatzung hatten sich mehr als 2200 Menschen an Bord befunden, nur 705 von ihnen konnte der heraneilende britische Dampfer Carpathia aus den Rettungsbooten aufnehmen.

Der kleine Stanley Leslie war indes nicht dabei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2012)

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