Keine Wirkung ohne Nebenwirkung

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Wer eine höhere Schule besucht hat, dem sollten Namen wie Kafka, Mozart oder Schiele doch einmal begegnet sein: Über die Zentralmatura - und die intelligenzferne Mode, Wissen gegen Kompetenzen auszuspielen.

Es wird viel geredet und gestritten über die neue Matura, die „teilstandardisierte, kompetenzorientierte Reifeprüfung“. Der breite, laute, aber nicht sonderlich tiefsinnige öffentliche Diskurs weist elementare Schwachstellen auf, die unter anderem dadurch bedingt sind, dass die Tagespresse oft äußere Begleiterscheinungen der Reform fokussiert, die „interessant“ erscheinen, obwohl sie für die Sache als solche unerheblich sind. Beispielsweise ist es völlig unerheblich, ob die neue Form der Reifeprüfung im Schuljahr 2013/14 oder erst im Schuljahr 2014/15 flächendeckend realisiert wird. Aus der aufgeregten Diskussion um die Verschiebung lässt sich vielleicht politisches Kleingeld machen (vermeintliche oder tatsächliche Unfähigkeit einer Ministerin), auch das zur Gewohnheit gewordene Lehrerbashing in Entrüstungspose lässt sich daran aufhängen (schlechte Vorbereitung der Schüler). Das war's aber dann schon wieder.

Zu einem kritischen Urteil, das dieses vornehme Attribut findet, kommt man erst, wenn man prüft, wie die einzelnen Unterrichtsgegenstände mit den Reformrichtlinien zurechtkommen. Da gibt es nämlich erhebliche Unterschiede. Das beginnt schon beim Grundsatz der Kompetenzorientierung, dem didaktischen Kern der Maturareform.

Kompetenz ohne Wissen?

Der Begriff „Kompetenz“ hat beim Erlernen einer Fremdsprache eine andere Qualität als im naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Unterricht. Gut Englisch zu sprechen und damit in verschiedenen Kommunikationssituationen zurechtzukommen, das ist tatsächlich eine Kompetenz, die nicht vorrangig auf bestimmte Inhalte fixiert ist. Ich kann meine Sprachkompetenz ebenso gut in einem Gespräch über amerikanische Popularmusik nachweisen wie in einem über den englischen Parlamentarismus, über das Fernsehprogramm oder über Jugendgruppen. Allzu dünnflüssig wird die Sache freilich, wenn man sich im Englischunterricht inhaltlich nur noch auf Talkshowniveau bewegt. Das eine oder andere kulturell relevante Thema wäre nicht wirklich kompetenzfeindlich, und der Name Shakespeare sollte nicht völlig beliebig austauschbar sein – etwa gegen Paris Hilton oder Hugh Hefner.

Die intelligenzferne Mode, Wissen gegen Kompetenzen auszuspielen, wird bei Disziplinen wie Physik, Biologie oder Geschichte geradezu lächerlich. Die großen Vereinfacher unter den Propagandisten der „Kompetenzorientierung“ erwecken gern den Anschein, als wäre in solchen Unterrichtsgegenständen bisher nur zusammenhangloses, auswendig gelerntes Faktenwissen abgeprüft worden, und dass es ihrer herausragenden Genialität bedurft hätte, diesen himmelschreienden Missstand endlich zu beseitigen. Ich ziehe seit zwei Jahrzehnten als Maturavorsitzender durch Oberösterreich. Noch nie habe ich gehört, dass bei einer Geschichte-Matura Einzelfakten geprüft worden wären. Immer ging es darum, Zusammenhänge, Ursachen und Folgewirkungen zu erläutern, aber dafür braucht man halt das eine oder andere Faktum. Wie sollen Maturanten den italienischen Faschismus erklären, wenn sie nichts Faktisches darüber wissen? Aufgrund einer allgemeinen Sprechkompetenz und ihrer Wahlberechtigung mit sechzehn?

Textsortenvielfalt – gut so!

Als besonders komplex erweist sich die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Kompetenz im Unterrichtsfach Deutsch, zweifellos ein Sprachfach, aber doch auf andere Weise als eine Fremdsprache. Grundsätzlich halte ich die Richtung, die man bei der schriftlichen Reifeprüfung eingeschlagen hat, für niveauförderlich. Die Zeiten, in denen es gereicht hat, wenn ein Maturant zu einem erhebenden Zitat seinen Assoziationen freien Lauf ließ und diesen „Herz und Bauch“-Erguss für einen Essay hielt, sind vorbei. Es gibt einen Textsortenkanon, auf den die Maturanten vorbereitet sein müssen. Er reicht vom journalistischen Kommentar über die Rede bis zur klassischen Erörterung und glücklicherweise auch zum Interpretationsaufsatz über literarische Texte.

So weit, so gut. Dennoch hätte ich es begrüßt, wenn man sich darauf beschränkt hätte, den Deutschlehrern Kriterien vorzugeben, denen ihre Themen entsprechen müssen, aber die Wahl der Inhalte den Lehrkräften zu überlassen. Dazu ein Beispiel: An meiner Schule gibt es einen Sportzweig mit dem Fach „Sportkunde“. Bei Maturathemen in Deutsch habe ich dieses „Weltwissen“ immer berücksichtigt. An einer HTL oder an einem sprachlich ausgerichteten Gymnasium wäre dies Unfug, da ergeben sich eben andere inhaltliche Schwerpunkte. Die Sekundarstufe II ist in Österreich ziemlich heterogen. Ich sehe wenig Sinn darin, dass alle Maturanten eines Jahrgangs österreichweit zu denselben Themen ihre Aufsätze schreiben müssen, denn man schreibt naturgemäß besser über ein Thema, zu dem man inhaltlich etwas zu sagen hat.

Ähnliches gilt für das Literaturthema. Da es keinen Literaturkanon gibt, kann als Grundlage für den Interpretationsaufsatz irgendein literarischer Text kommen. Ob so etwas Ähnliches einmal im Unterricht stattgefunden oder nicht, bleibt dem Zufall überlassen, und auf kontextuelles Wissen, das die werkimmanente Interpretation sinnvoll ergänzen könnte, kann man dann sowieso nicht mehr bauen. So werden sich die Themensteller für die Klausur auf eher einfaches Textmaterial beschränken müssen. Schade, denn Literatur bietet eigentlich mehr.

Wie hast du's mit der Rechtschreibung?

Rechtschreibung und Grammatik dürften für die Gesamtbeurteilung einer Deutsch-Matura nach neuer Fasson eher nebensächlich sein. Auf diese Kompetenz, die im wirklichen Leben draußen immer noch wichtig ist (ob wir das gut finden oder nicht), brauchen wir in der Schule nicht mehr zu sehr bauen. Obwohl die pädagogische Ideologie der „Kompetenzen“ Teil einer funktionalistischen Bildungsauffassung ist, die Lernen an Verwertbarkeit bindet und dem „Praxisbezug“ hohen Stellenwert einräumt, ignorieren die Verantwortlichen weitgehend, dass die Gesellschaft korrekter Rechtschreibung und Grammatik nach wie vor einen hohen Stellenwert einräumt. Das ist ein seltsamer Widerspruch.

Bedauerlich finde ich, dass wir vor lauter Kompetenzen keine Inhalte mehr sehen wollen. Die „konservative“ Frage, ob die Kenntnis des kulturellen Kanons nicht doch zum Kompetenzbündel von Maturanten gehören soll, ist völlig aus dem didaktischen Diskurs verschwunden. Wer (so wie ich) daran festhält, dass jemand, der eine höhere Schule besucht hat, Namen wie Mozart, Schiele, Goethe oder Kafka doch einmal begegnet sein soll, gerät bei schneidigen Fortschrittlern schnell in den Generalverdacht elitärer Dünkelhaftigkeit und eines neokolonialistischen, eurozentrischen Kulturverständnisses.

Unerwünschte Nebenwirkungen

Die neuen Richtlinien für die mündliche Reifeprüfung bringen interessante Herausforderungen für den Prüfer und Kandidaten mit sich. Die Reduktion der mündlichen Prüfungen bei gleichzeitiger Verlängerung der Prüfungsdauer wird etwas anspruchsvollere Fragestellungen ermöglichen. Die Vorgabe, dass jede Aufgabenstellung für eine mündliche Prüfung drei Qualifikationsebenen beinhalten müsse (Reproduktion, Transferleistung, Reflexion), fördert eine qualitativ hochwertige Aufgabenstellung. Das wird positive Auswirkungen haben. Die Zeit jener Biedermänner und Biederfrauen, die Literaturgeschichte auswendig lernen und aufsagen lassen, ist abgelaufen. Sie kommen sinnvollerweise ein wenig ins Schwitzen, denn ohne Lektüre und eigenständige Arbeit am Text geht in Zukunft gar nichts mehr, und das ist gut so.

Der Preis für diese Regulierung ist nicht gerade niedrig. Jede Lehrkraft muss künftig in erster Linie darauf achten, dass sie alle erforderlichen Kompetenzen und die daran gebundenen Lehr- und Lernprozesse in knapper Zeit unterbringt. Für Experimente, Sonderprojekte, Schwerpunkte bleibt nur wenig Raum. Originalität und Kreativität könnten auf der Strecke bleiben. Alles hat eben seinen Preis. Keine Wirkung ohne Nebenwirkung.


Christian Schacherreiter (geb. 1954) ist
Literaturkritiker und Direktor am
Peuerbach-Gymnasium in Linz.

Auf einen Blick

Der Start der Zentralmatura hat sich um ein Jahr verzögert. Die erste zentrale Reifeprüfung an den Gymnasien wird nicht im Schuljahr 2013/14, sondern erst 2014/15 stattfinden. An den berufsbildenden höheren Schulen (BHS) wurde der Start von 2014/15 auf 2015/16 verschoben. Grund für die Verschiebung: die angeblich unzureichenden Vorbereitung der Zentralmatura. Vor allem im Fach Mathematik wurde Kritik laut. Die Schulen, die sich bereits ausreichend vorbereitet fühlen, sollen mit der Zentralmatura wie geplant beginnen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2012)

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