"Sozialarbeit wird an allen Schultypen gebraucht"

Erwachsene fuerchten sich schon
Erwachsene fuerchten sich schon(c) Rosa Schmidt-Vierthaler
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Ganztagsschule ohne Sozialarbeit ist "ein Unding", sagt Sozialpädagoge Josef Bakic im DiePresse.com-Interview. Er warnt gemeinsam mit Johanna Coulin-Kuglitsch vor billigen "Profis".

Mehr Gewalt, mehr Mobbing, mehr psychische Probleme: Wenn man diversen Studien glaubt, werden Schüler zunehmend schwieriger bzw. aggressiver. Stimmt das?

Johanna Coulin-Kuglitsch: Meine Wahrnehmung ist, dass das ganze Leben aggressiver wird. Im großstädtischen Bereich müssen Kinder nach meiner Wahrnehmung sehr viel leisten, um mit den Anforderungen zurechtzukommen. Aber dass die Kinder als solche aggressiver werden, würde ich nicht sagen.

Josef Bakic: Eine Veränderung merke ich in der Verantwortlichkeit, auch bei den Erwachsenen. Erwachsene Menschen fürchten sich mittlerweile schon vor Zehnjährigen. Das ist ein Phänomen, das es meiner Ansicht nacht vor zwei oder drei Jahrzehnten noch nicht gab. Auch die Zuschreibung, was normales und was problematisches Verhalten ist, hat sich verändert.

Der Normalitätsdruck ist gestiegen.

Bakic: Ja. Lehrer sagen mittlerweile relativ rasch: Das Kind macht Schwierigkeiten, bitte holt mir einen Spezialisten. Es gab Zeiten, wo Schwierigkeiten zum normalen Aufwachsen dazugezählt haben. Heute wird das in Spezialdiskurse ausgelagert - dieses Phänomen ist stark. Man muss es auf beiden Ebenen sehen: Es gibt in manchen Fällen eine Ausdehnung von Problemfällen, aber oft einfach differenziertere Expertisen, die zu einem höheren Problembewusstsein führen.

Zur Person

Josef Bakic und Johanna Coulin-Kuglitsch sind Herausgeber des Buches "Blickpunkt: Schulsozialarbeit in Österreich". Sie lehrer und forschen an der Fachhochschule Campus Wien zu diesem Thema.

Josef Bakic studierte Pädagogik und Psychologie, arbeitete als Sozialpädagoge in sozialarbeiterischen Feldern und lehrte an der Uni Wien.

Johanna Coulin-Kuglitsch arbeitet ebenfalls im Department "Soziale Arbeit" an der FH Campus Wien. Sie beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit dem Feld Schulsozialarbeit.

In welchen Schulformen sind Schulsozialarbeiter aktiv?

Coulin-Kuglitsch: Grundsätzlich gibt es in Österreich Schulsozialarbeiter an allen Schulformen. Der stärkste Einsatz ist an den Mittel- oder Hauptschulen. Bei den Hauptschulen kumuliert das im großstädtischen Raum natürlich, weil es eine "Restschule" geworden ist. An den AHS ist Schulsozialarbeit eher eine Rarität. Manche ringen dort aber die Hände und sagen, wir bräuchten das ganz dringend. Die Volksschule ist auch ganz schwach besetzt, was meiner Ansicht nach auch nicht richtig ist. In Varianten wird Sozialarbeit an allen Schultypen gebraucht.

Wohin wird sich denn die Schulsozialarbeit entwickeln? Wird es in der Zukunft einen fixen Sozialerbeiter an jeder Schule geben?

Coulin-Kuglitsch: Ein fixer Schulsozialarbeiter wäre aus meiner Sicht gar nicht das Ziel. Aber dass eine Schule jederzeit Sozialarbeit beanspruchen kann, wäre gut. Bei Ganztagsschulen besteht sicher auch vermehrt Bedarf, in größeren Teams zu arbeiten. Das Feld kann nicht nur von Lehrern abgedeckt werden.

Bakic: Verschränkte Ganztagsschulen ohne eine Professionalisierungserweiterung in Richtung Sozialarbeit sind meiner Meinung nach ein Unding. Wie ich den österreichischen Weg einschätze, werden aber schnell angelernte Freizeitpädagogen zu biligen "Profis" gemacht und dies ersetzen. Mehr, als unsere Stimme einzubringen, können wir derzeit aber noch nicht tun. Wir geben nicht vor, dass wir schon einzigartige, systematische und abgeschlossene Weisheiten zur Schulsozialarbeit verbreiten können.

Bei welchen Fällen stoßen Schulsozialarbeiter an ihre Grenzen?

Bakic: Bei strukturell bedingten Problemfällen. Ein breites Feld in der Schulsozialarbeit ist etwa die Begleitung beim Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt. Wir werden dort an unsere Grenzen verwiesen, wo es die Möglichkeiten nicht gibt, etwa nicht genug Jobs. Die Ausreißerprobleme wie Rechtsradikalismus fordern die Schulsozialarbeit massiv heraus, und da scheitern wir auch immer wieder. Außerdem ist es für die Schulsozialarbeit nicht einfach, den Erfolg nachzuweisen, insofern scheitern wir laufend.

Coulin-Kuglitsch: Scheitern ist vorprogrammiert, wenn nicht genug Zeit eingeplant ist. Zum Beispiel wenn die Schulsozialarbeit einen Suchtpräventionsworkshop abhalten darf, der aber auf vier Stunden begrenzt ist. Das kann nicht funktionieren.

Nehmen die Kinder ihre Probleme von zuhause mit oder erzeugt auch die Schule welche?

Coulin-Kuglitsch: Das ist ein Thema mit Variationen. Alles spielt zusammen.

Bakic: Es ist eine schwierige Frage, wo Probleme anfangen. Es braucht eine Sensibilität, dass Alltagsbewältigung in unserer Gesellschaft zum Teil misslingen kann und dass Probleme in der Mitte der Gesellschaft angelangt sind. Das heißt, wir haben jetzt nicht nur einzelne Schichten wie "die Migranten" oder "die Unterschicht", die mit Problemen überhäuft sind. Das Leben an sich kann scheitern, jeder kann von Armut bedroht sein. Auch das Schulsystem produziert Auffälligkeiten und Dysfunktionalitäten. Hierauf muss man ein Auge haben. Aber das nur einer Gruppe umzuhängen, die ohnehin schon sehr viel zu tun hat, nämlich den Lehrern, kann diese überfordern. Hier können andere Berufsgruppen eine neue Perspektive einbringen. Die Sozialarbeit ist dafür ein guter Partner.

Was sind denn die Risiken, die die Schule erzeugt?

Bakic: Gruppendynamischsche Phänomene, bei denen Kinder aufgrund von scheinbaren Abweichungen ausgeschlossen werden. Und damit kann das System oft nicht umgehen: Was mache ich, wenn ein Kind ausgegrenzt wird, weil es zu dick ist oder einen Sprachfehler hat? Da braucht es andere Formen, die abseits des schulischen Kontexts neue Zugänge ermöglichen. Es gibt auch Lehrer, die in der Leistungsorientierung einen sehr starken Druck ausüben, der sachlich argumentierbar ist, aber in der persönlichen Beziehung überfordert. Da brauchen vielleicht Lehrer und Schüler Unterstützung, damit das nicht in Frustration mündet.

Wie viele Schulsozialarbeiter gibt es denn in Österreich?

Coulin-Kuglitsch: In Wien gibt es 28, die beim Stadtschulrat beschäftigt sind. Insgesamt ist es schwierig, Zahlen zu nennen, weil es verschiedene Organisationsformen gibt. Ich würde schätzen, dass es österreichweit 300 bis 350 Schulsozialarbeiter gibt. Aber es ist ein Unterschied, ob jemand pro Woche ein paar Stunden an einer Schule ist oder ob jemand drei Tage an einer Schule verbringt, was ideal wäre.

Sind wir da weit weg vom Niveau in Deutschland oder der Schweiz?

Coulin-Kuglitsch:
Ja. In der Schweiz wurden etwa in den vergangenen zehn Jahren 400 volle Planstellen eingerichtet.

Wie sollte sich die Rolle der Schulsozialarbeit verändern?

Bakic: Im etablierten Wiener Modell sind die Schulsozialarbeiter Lehrer besonderer Verwendung in das System und damit zuarbeitende Helferinnen. Dann kriegt es den Geruch, dass Schulsozialarbeit nur eine Reparaturhilfe für Probleme ist. Ich sage nicht, dass die Schulsozialarbeit nicht für Probleme zuständig ist. Aber sie sollte nicht nur auf den Problemfokus reduziert sein, denn dann kommt überhaupt kein Beziehungsaufbau in der Schule zustande. Wir können schon Feuerwehr auch sein. Wir wollen aber nicht darauf reduziert werden.

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