Lesen lernen: "Von Krabbeln bis Globuli wurde alles versucht"

(c) Clemens Fabry
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Unterrichtsministerin Claudia Schmied und Bildungspsychologe Alfred Schabmann im Interview mit der "Presse" über fehlgeleitete Leseförderung und verpflichtende Lehrerfortbildungen.

Die Presse: Dass unsere Schüler beim Lesen nicht gut sind, wissen wir. Der neue Bildungsbericht zeigt nun eine Menge offener Baustellen – etwa, dass Lehrer die Lesekompetenz ihrer
Schüler oft völlig falsch einschätzen.

Claudia Schmied: Lernerfolge in der Schule hängen ganz stark von zwei Dingen ab: von der Familie und von den Lehrerinnen und Lehrern. Wir müssen sie besser auf den Umgang mit leseschwachen Schülern vorbereiten. Ich will aber nicht die Schwächsten drankriegen, ich will Lösungsansätze finden. Mit der Einstellung lese ich auch den Bildungsbericht.

Herr Schabmann, trauen Sie sich, die Lehrerinnen und Lehrer etwas härter anzufassen als die Ministerin?

Alfred Schabmann: Man muss nicht die Lehrer härter angreifen, sondern das System. Die Frage ist: Wie kommt der durchaus bedenkliche Befund zustande? Eine Erklärung dafür ist, dass Lesen in der Schule lange im Hintergrund stand, die Rechtschreibung wurde als wichtiger erachtet. Zudem werden immer noch Methoden herangezogen, die längst veraltet sind. Das zeigt, dass es die Lehrerausbildung nicht geschafft hat, eine Zäsur zu setzen und Erkenntnisse der Wissenschaft zu integrieren.

Was man bei der Ausbildung der Lehrer verpasst hat, könnte man bei der Weiterbildung nachholen. Sollten Lehrer zur Fortbildung im Bereich Lesen verpflichtet werden?

Schabmann: Das wäre sicher sinnvoll. Die Frage ist, wie viel Widerstand das erzeugen würde. Lehrer haben die Eigenschaft, keine Evaluationskultur zu haben und alles, was an Innovationen kommt, skeptisch zu beäugen. Aus Gesprächen weiß ich aber, dass sich viele Lehrer ohnehin gern fortbilden wollen.

Schmied: Lehrer-Bashing zu betreiben, bringt nichts. Wir müssen an unseren Haltungen arbeiten, nach vorn schauen.

Wie müsste die optimale Leseförderung aussehen? Und können die Lehrer das allein bewältigen?

Schabmann: Wenn man davon ausgeht, dass 15 Prozent der Kinder Probleme beim Lesen haben, können zehn Prozent durch Maßnahmen im Unterricht aufgefangen werden. Die anderen brauchen eine außerschulische Förderung. Was es braucht, ist ein Prozedere, auf das die Lehrer zurückgreifen können. Wenn ich merke, dass jemand schlecht sieht, dann schicke ich ihn als Lehrer zum Augenarzt. Beim Lesen erkennen Lehrer das oft gar nicht – und sind dann außerdem hilflos, weil sie nicht wissen, wohin sie verweisen sollen.

Braucht es einen Lesedoktor?

Schabmann: Klar ist, dass es eine Veränderung braucht. Es gibt Eltern, die zehn Therapeuten aufgesucht haben – von Globuli bis zu Krabbeln am Boden wurde auf alle möglichen Arten versucht, die Leseschwäche zu bekämpfen. Dabei gibt es klare Kriterien, was ein guter Lese- und Rechtschreibtherapeut können muss. Und für fünf Prozent der leseschwachen Kinder ist eine derartige Förderung auch sinnvoll.

Schmied: In Einzelfällen ist eine solche Förderung sicherlich notwendig. Eines möchte ich aber betonen: Bildungserfolg ist das Ergebnis aus Interesse und harter Arbeit. Ohne Interesse und Disziplin geht gar nichts – und den persönlichen Einsatz können wir nicht delegieren. Es ist auch die Frage, wie wir wieder mehr Ehrgeiz und Freude am Erfolg in die Schule und die Gesellschaft bringen.

Ist es eine Frage des Ehrgeizes, wenn Jugendliche aufgrund ihrer Lesedefizite Schwierigkeiten haben, sich einen Fahrschein zu kaufen?

Schabmann: Es ist richtig, was die Ministerin sagt. Aber ich bin skeptisch, wenn man die Motivation zu sehr in den Vordergrund rückt.

Schmied: Nur, damit wir uns nicht falsch verstehen: Das ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Aber wir dürfen den Ehrgeiz nicht ausklammern.

Einer der beiden Faktoren, die Sie genannt haben, ist die Familie. Die liegt außerhalb Ihres Ressorts – und irgendwie auch außerhalb Ihres Einflusses.

Schmied: Es geht darum, die Eltern in der Schule miteinzubeziehen –unabhängig von etwaigen Ressorteinteilungen. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass sich Einsatz lohnt. Wenn ab morgen alle Eltern ihre Kinder fragen: ,Wie war es in der Schule?‘, dann ist das ein Stück in die richtige Richtung.

Schabmann: Es stimmt natürlich, dass wir das Gut Bildung höher bewerten müssen. Und es gibt ganz einfache Methoden. Warum nicht einen Folder machen, in dem man beschreibt, wie man günstig mit der Schulsituation des Kindes umgeht? Oder in dem man den Eltern erklärt – meinetwegen in verschiedenen Sprachen –, wie sie ihre Kinder beim Lesen fördern können?

Vergangene Woche war Sprachförderung das Thema. Was kann ein Jahr in der Vorschule bringen?

Schabmann: Unter bestimmten Umständen kann das sinnvoll sein. Wenn ein Kind gar nicht Deutsch spricht, kann man es in einem solchen Jahr auf den Weg bringen. Das kann aber auch im Kindergarten stattfinden, das muss man sachlich analysieren. In jedem Fall muss die Unterstützung über diese kurze Phase hinausgehen.

Schmied: Wenn das Problem so einfach zu lösen wäre – ein Jahr Sprachkurs und dann können alle Deutsch –, würden wir nicht hier sitzen. Faktum ist, dass das mehrjährige Prozesse sind, die möglichst früh beginnen sollten.

War es vorschnell, den Vorschlag von Kurz abzulehnen? Sie haben dafür den Begriff „Ghettoklassen“ geprägt.

Schmied: Wir sehen in der laufenden Debatte, dass es nicht weit ist zu den Forderungen, Ausländer mögen in eigenen Klassen unterrichtet werden. Das Thema eignet sich nicht für Verkürzungen und einen medialen Schlagabtausch.

Man hat den Eindruck, dass Kurz Sie mit seinem medialen Auftreten manchmal unter Zugzwang bringt.

Schmied: Ich beginne jetzt mit der medialen Umarmung: Ich schätze Herrn Kurz. Und ich werde an meinen Reaktionsmustern arbeiten.

Auf einen Blick

Beim Lesen stellt der am Montag präsentierte Nationale Bildungsbericht Österreich einmal mehr ein fatales Zeugnis aus: „Der Outcome des Schulsystems entspricht nicht den Erwartungen an eine Kultur- und moderne Wirtschaftsnation“, so die Analyse des Bildungspsychologen Alfred Schabmann.

Der Bildungsbericht wird seit dem Jahr 2009 alle drei Jahre und damit nun zum zweiten Mal vorgelegt. Neben statistischem Material enthält er Analysen zu ausgewählten Themenbereichen – u.a. Lesen, Chancengleichheit, Mehrsprachigkeit und Schulformen. Online nachzulesen unter www.bifie.at/nbb.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2013)

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