Amerikas zensurfreudige Hochschuljugend

Student walks by a college noticeboard on campus at Yale University in New Haven, Connecticut
Student walks by a college noticeboard on campus at Yale University in New Haven, Connecticut(c) REUTERS (SHANNON STAPLETON)
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Akademische Freiheit. An US-Elitehochschulen wie Yale und Princeton treten Studentengruppen für die Unterdrückung kontroverser Geschichte und unangenehmer Debatten auf. Beobachter warnen vor radikaler Infantilisierung.

Das YouTube-Filmchen, am 5. November dieses Jahres aufgenommen, bringt den zusehends krisenhaften Zustand der Debattenkultur an Amerikas Universitäten auf den Punkt. Umringt von einer Gruppe Studenten steht da Nicholas Christakis, Soziologe und Mediziner, Leiter des Human Nature Lab an der Yale University und für das dortige Silliman College verantwortlich, und wird von einer Studentin unflätigst beschimpft: „Es ist Ihr Job, für die Studenten, die in Silliman leben, einen Ort der Behaglichkeit und ein Zuhause zu schaffen. Wer verdammt noch einmal hat sie angestellt? Es geht nicht darum, einen intellektuellen Raum zu schaffen!“, hallen die gellenden Schreie der jungen Frau, von Fäkalwörtern durchzogen, über den Campus.

Der Anlass für diesen Wutausbruch klingt banal: Der Dekan des College, Burgwell Howard, hatte vor dem Halloweenfest darum gebeten, von Kostümierungen Abstand zu nehmen, die von anderen Studenten als anstößig empfunden werden könnten; man denke beispielsweise an eine Verkleidung als „Mexikaner“ mit Sombrero und Schnurrbart. Christakis' Frau, Erika, eine Kinderpsychologin, die ebenfalls in Yale forscht und lehrt, hat das in einem Rundschreiben kritisiert: „Gibt es keinen Platz mehr für ein Kind oder einen jungen Menschen, ein bisschen anstößig zu sein, ein bisschen unangemessen, provokant und, ja, beleidigend?“

Die hochsensiblen Millennials

Offenkundig nicht. Amerikas akademische Jugend ist heute so willig wie nie zuvor, Rede- und Denkverbote zu erteilen. 40 Prozent der 18- bis 34-Jährigen meinen laut einer neulich veröffentlichten Umfrage des Pew Research Center, dass die Regierung anstößige Meinungsäußerungen, die gegen Minderheiten gerichtet sind, verbieten können solle. Nur 28 Prozent aller Amerikaner befürworten solche Redeverbote, bei der nächsten Altersgruppe, der 35- bis 50-jährigen Generation X, sind es nur 27 Prozent. Das Muster ist klar: Während ihre Eltern und Großeltern in den 1960er-Jahren noch, von Berkeley und der dortigen linksliberalen „Free Speech Movement“ ausgehend, gegen Sprechverbote demonstriert haben, haben junge Amerikaner heute Angst vor verstörenden Meinungen. Das schädigt die Freiheit von Lehre und Forschung.

„Zensur hat es immer gegeben. Aber es ist ein neuer Trend, dass die Studenten selbst fordern, dass ihre Mitstudenten oder Professoren zum Schweigen gebracht werden“, sagte Ari Cohn von der Foundation for Individual Rights in Education, zur „Presse“. Dafür sieht er zwei Hauptursachen: „Wir lehren die Studenten erstens, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und dass sie vor unerfreulichen Ideen geschützt werden müssen.“ Diese pädagogische Haltung kann man in den USA im Alltagsleben bis hinunter ins Kindergartenalter beobachten: Kinder dürfen ihren Schulweg nicht mehr allein bestreiten, Erdnussbutter ist aus vielen Schulkantinen verbannt, der Allergiegefahr wegen.

Zweitens, sagt Cohn, gäben die Universitätsverwaltungen den Forderungen aggressiver Studentengruppen zu schnell nach: „Das hat damit zu tun, dass Hochschulbildung heute einem Konsumentenmodell folgt.“ Verschärft wird diese Ängstlichkeit der universitären Leitungsgremien durch einen im Jahr 2013 verfügten Erlass der US-Ministerien für Bildung und Justiz. Sie definieren nun auch unwillkommene Wortmeldungen als sexuelle Belästigung, die amtliche Ermittlungen nach sich ziehen kann. Um Strafen und dem Entzug steuerlicher Subventionen vorzubeugen, behandeln viele Universitäten „unwillkommene Meinungsäußerung“ auch in Fragen der ethnischen Zugehörigkeit oder Religion als Diskriminierungsfall.

Woodrow Wilson auslöschen

Die Bereitschaft mancher Studenten, Zensur zu üben, ist bemerkenswert, die zügige Abstrafung missliebiger Stimmen bedenklich: Die Fachschaft an der Wesleyan University in Connecticut halbierte der Studentenzeitung „The Wesleyan Argus“ das Budget, weil dort ein Kommentar erschienen war, der sachliche Kritik an der wachsenden Militanz der Black-Lives-Matter-Bewegung geübt hatte. Und an der Princeton University fordert nun eine Gruppe namens Black Justice League, dass der Name des früheren US-Präsidenten und einstigen Princeton-Rektors Woodrow Wilson von allen Gebäuden und Instituten gelöscht wird. Wilson war ein übler Rassist, der den Ku-Klux-Klan bewunderte und schwarze Beamte systematisch aus den US-Bundesbehörden verdrängen ließ. Gleichzeitig wäre Princeton ohne seine visionären Reformen noch immer jene akademisch miserable Aufbewahrungsanstalt für dumme Söhne reicher Familien, als die sie früher belächelt wurde, und nicht die weltweit bewunderte Spitzenhochschule von heute.

Diesen Widerspruch könnte man mit dem Anbringen von Tafeln, die an Wilsons schlimmes Tun erinnern, vernünftig lösen. Doch die jugendlichen Aktivisten sehen öffentlichen Diskurs als Nullsummenspiel. Der Schriftsteller Gary Shteyngart, der an der Columbia University kreatives Schreiben lehrt, stöhnte im Frühjahr im Gespräch mit der „Presse“ über diese Weltsicht: „Was für ein Desaster! Amerika ist schon von so vielen Problemen der Welt abgeschottet, dass die Idee, man könne sich auch gegen alle persönlichen Probleme isolieren, lächerlich ist. An der Hochschule sollte es darum gehen herauszufinden, wer man ist – und nicht, sich davor zu verstecken.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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