"Zukünftiger Maurer und Architekt lernen gemeinsam"

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Der Leiter der besten Schule Deutschlands erklärt sein Konzept und übt Kritik an der Neuen Mittelschule: Diese bringe nichts, solange das Gymnasium weiter existiert.

Heute, Donnerstag, wurde sie im Parlament beschlossen: die Neue Mittelschule (NMS). Während Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) sie als "großen Reformschritt" bezeichnet, kritisieren sie andere als Mogelpackung. Denn neben der NMS bleiben die Gymnasien weiter bestehen und so komme lediglich ein "neues Türschild" auf die bisherigen Hauptschulen, kritisiert etwa Grünen Bildungssprecher Harald Walser. Um seiner Ansicht noch Nachdruck zu verleihen, hat Walser in dieser Woche einen prominenten Gesamtschul-Vertreter eingeladen: Wolfgang Vogelsaenger, Direktor der Integrierten Gesamtschule Göttingen (Niedersachsen), die im Jahr 2011 den deutschen Schulpreis gewonnen hat.

Damals noch im Amt, hatte der inzwischen abgetretene Bundespräsident Christian Wulff (CDU), keine große Freude damit, ausgerechnet einer Gesamtschule, den Preis für die beste Schule Deutschlands überreichen zu müssen - er wollte in seiner Zeit als niedersächsicher Ministerpräsident die Neugründung von Gesamtschulen sogar verbieten. Denn: Auch im Nachbarland spaltet die Frage nach der Gesamtschule die politischen Lager.

Keine Noten, kein Sitzenbleiben

Das pädagogische Konzept der IGS Göttingen passt eben gar nicht in die Vorstellung konservativer Schulentwicklung: Keine Noten bis zur zehnten Klasse, kein Sitzenbleiben, keine fixe Stundeneinteilung sowie das Miteinander von Schülern mit Gymnasialreife, mit Hauptschulreife und von Schülern mit Handicap. Aber genau in dieser Mischung liegt nach Ansicht von Schulleiter Vogelsaenger der Erfolg seiner Schule, die dem Grundsatz folgt: "Schule muss für alle Kinder sein".

Derzeit besuchen 1500 Schüler zwischen 11 und 18 Jahren die IGS Göttingen. Für das kommende Schuljahr haben sich schon mehr Schüler angemeldet, als man aufnehmen kann. In der Gesamtschule bleiben die Schüler mindestens bis zur zehnten Klasse (entspricht der sechsten Klasse in Österreich) zusammen, danach bekommen sie entweder einen Haupt- oder Realschulabschluss oder gehen weiter in die Oberstufe. Ohne Abschluss verlässt gerade mal ein Prozent der Schüler die Schule, ein Drittel der Schüler die beim Eintritt in die Schule "nur" eine Hauptschulempfehlung hatten, schafft es bis zum Abitur. Ein großer Teil der Interssenten aber auch der Schüler die bereits an der Schule sind, seien solche mit Gymnasialreife, was den Erfolg des Konzepts der gemeinsame Schule unterstreiche, so Vogelsaenger.

Tischgruppe ist zentrale Lern- und Lehreinheit

Im Zentrum des Lernens an der IGS Göttingen steht die Tischgruppe, bestehend aus sechs Schülern. Bei der Zusammenstellung dieser Gruppen werde stets darauf geachtet, dass lernstarke und lernschwache Schüler zusammen kommen und gemeinsam die Lernaufträge bewältigen. So sei gesichert, dass jeder vom anderen profitiert: Die lernstärkeren Schüler, würden ihr Wissen dadurch festigen, dass sie den lernschwächeren Schülern die Inhalte erklären. Die lernschwächeren widerum hätten den Vorteil, von gleichaltrigen in einer angenehmen Atmosphäre ohne Druck zu lernen. Vogelsaenger veranschaulicht das mit einem Beispiel: So würden "der zukünftige Architekt und der zukünftige Maurer schon jetzt an einem Tisch zusammen lernen und später vielliecht zusammen ein Haus bauen". Außerdem werde durch dieses System kein Kind über- oder unterforderdert.

Aber nicht nur von den Schülern wird ein hohes Maß an Eigenverantwortung eingefordert - von der Sekretärin über das Lehrpersonal und den Schulleiter bis hin zu den Eltern, trägt jeder als Teil eines großen Teams seinen Teil zum Funktionieren des Schulalltags bei. So machen die Lehrer selbst den Stundeplan: Sie entscheiden, ob sie an einem Tag 20 Minuten oder fünf Stunden Naturwissenschaften unterrichten, das richte sich nach Thema und Tagesverfassung einer Klasse. Und die Lehrer würden ja besser als alle anderen wissen, was für ihre Klasse am Besten sei, erzählt Vogelsaenger. Da wolle er sich gar nicht einmischen.

70 Wochenstunden für Lehrerinnen und Lehrer

Die Lehrerteams, die eine Klasse über sechs Jahre begleiten, verbringen in der Regel 20 bis 25 Stunden in einer Klasse. Unter anderem deshalb, weil an der IGS Göttingen Fächer gebündelt - etwa die Naturwissenschaften - und von Lehrerteams unterrichtet werden. Dadurch würden sie ihre Schützlinge, von denen sie genauso wie der Schulleiter aus Prinzip mit "Du" angesprochen werden, besonders gut kennen. Aber eine so intensive Beschäftigung mit der eigenen Arbeit und den Schülern erfordere natürlich einen großen Zeitaufwand: Steffi Vogelsaenger, die Frau von Wolfagang Voeglsaenger die auch an der Schule unterrichtet beziffert ihr wöchentliches Arbeitspensum mit durchschnittlich 70 Stunden.

Denn der Unterricht geht auch noch über die Schule hinaus: Anstatt von Elternabenden gibt es die so genannten "Tischgruppen-Abende". Dabei kommen jene sechs Schüler aus einer Gruppe, ihre Eltern und die Lehrer bei einem der Schüler zuhause zusammen. Dabei werden von den Schülern die Lernerfolge der vergangenen Monate präsentiert, mit Eltern und Lehrer Probleme und Erfolge besprochen.

Schularchitektur spiegelt Pädagogik wider

Aber die Schule habe laut Vogelsaenger neben engagierten Lehrern und der besonderen Lernstrukutur noch ein anderes Erfolgsgeheimnis: Das Schulhaus. Das wurde von vornherein auf das pädagogische Konzept der Schule zugeschnitten: So gibt es zwischen den Klassenzimmern "Cluster" in denen die Schüler arbeiten können, aber auch die Lehrer nützen diesen Platz für ihre Arbeit und Besprechungen. Weil es sich bei der Schule um eine Ganztagsschule handelt, gibt es am Schulgelände auch ein Kino, ein Theater und einen Beachvolleyballplatz. "Unsere Schule wurde praktisch um das pädagogische Konzept herum gebaut. Nicht so wie bei einem normalen Schulbau, wo man zuerst das Gebäude hat und sich dann fragt: Wirds ein Gymnaisum oder ein Gefängnis?" scherzt Vogelsaenger über den traditionellen Schulbau.

Warum sich noch nicht ganz Deutschland an seinem Schulmodell orientiert, erklärt Vogelsaenger damit, dass Modellschulen meistens Modellschulen bleiben und das dreigliedrige System der Idee der Gesamtschule nicht gerade förderlich sei. So kommentiert er auch den Beschluss der neuen Mittlschule in Österreich, als sinnlos. Denn: Gymnasien seien dazu da, "Privilegien zu vergeben". und solange die Eltern der "guten Schüler" ihre Kinder nicht auch in Gesamtschulen schicken, würde das Konzept nicht aufgehen. So hätte es auch keinen Sinn, Gesamtschulen in Brennpunktgegenden zu errichten. Dort würde nicht jene Durchmischung zustande kommen, die den Erfolg einer gemeinsamen Schule ausmache.

"Schule ist mehr als eine Lernanstalt"

Insgesamt gibt Vogelsaenger zu bedenken, dass es nicht in erster Linie darauf ankommt, welchen Namen eine Schule trägt. "Bildung ist eine Haltungsfrage. Man müsste sich zuerst einmal hinsetzen und sich überlegen, welche Funktion Schule haben sollte. Und da geht es nicht um irgendwelche Türschilder die man drauf klebt, sondern darum, welche Haltung man gegenüber den Kindern hat". So wäre es sowohl in Deutschland als auch in Österreich höchst an der Zeit, einen - über eine Wahlperiode hinausreichenden Konsens - über diese Frage zu erzielen, um ein angemessenes Schulsystem zu entwickeln, das für die gesamte Gesellschaft gut ist. "Eine Schule kann nicht alles reparieren was in einer Gesellschaft passiert, das ist klar. Aber man kann vieles aufgreifen und abfedern. Das müsste man ernst nehmen und Schule nicht nur als Lehranstalt begreifen".

Was Vogelsaenger in seiner eigenen Schullaufbahn geprägt hat, sodass er heute sein Konzept von Schule vertritt? "Als ich elf Jahre alt war, ist unser Lateinlehrer durch die Klasse gegangen und hat mit dem Finger auf jeden Schüler gezeigt und ihm prophezeit ob er Abitur machen wird oder ob er die Schule frühzeitig verlassen wird". Das und der Umstand, dass sich die Prophezeiungen bewahrheitet hätten, habe ihm gezeigt, dass jener Lehrer schon nach ein paar Wochen einschätzen konnte, wer sich dem System soweit anpasst, dass er besteht und wer das nicht schaffen wird und aussortiert wird. "Das war der Punkt an dem ich beschlossen habe Lehrer zu werden um es besser zu machen".

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