Emotionen als Fremdsprache

Emotionen Fremdsprache
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Das Asperger-Syndrom wird öffentlich vor allem dann debattiert, wenn es um Genies oder Amokläufe geht. Die Betroffenen sind aber normale Menschen – mit ein paar Eigenheiten.

Für Regina Schneider ist ein sonniger Tag ein schöner Tag. Für ihren neunjährigen Sohn Elias nicht. Für ihn scheint einfach nur die Sonne. Dieser kleine Unterschied, den man auch unter „Spitzfindigkeit“ verbuchen könnte, stört die junge Mutter nicht weiter. Sie kennt ihren Erstgeborenen nicht anders. Im Umgang mit anderen aber kann diese Differenzierung zur Last werden. Dann nämlich, wenn andere Menschen nicht wissen, dass Elias unter dem Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus, leidet.

Vor allem in der Schule kommen weder Lehrer noch andere Kinder mit dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung zurecht. Frau Schneider spürt das derzeit besonders. Sie ist gerade auf der Suche nach einem Gymnasium, das ihren Sohn aufnimmt. „Ich will nicht anklagen, sondern aufklären. Es ist als Mutter sehr belastend, wenn man sein Kind immer erklären und rechtfertigen muss. Diese Ablehnung ist einfach grausam“, sagt Regina Schneider, die nach einer weiteren Abweisung – untermauert mit dem Kommentar, ihr Sohn solle eine Sonderschule besuchen – beschlossen hat, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Wenn auch nicht ganz öffentlich, denn weder heißt Regina Schneider noch ihr Sohn Elias so. „Ich wohne auf dem Land und habe es schwer genug, ich will es nicht verschlimmern“, sagt sie.

Eigentlich ist Elias ein ganz normales Kind, allerdings nur auf den ersten Blick. Man sieht ihm seine Beeinträchtigung nicht an. Er hat, wie viele andere Asperger-Kinder auch, Teilbegabungen, etwa in den Fächern Mathematik, Physik oder Chemie, und naturwissenschaftliche Spezialinteressen. Auch sprachlich ist er recht weit, was aber aufgrund der anderen Sprachmelodie oft als altklug verstanden wird. Was Elias nicht kann, ist schreiben, dazu fehlt ihm die Feinmotorik. „Er schreibt mit einem Computer. Das ist unser größtes Problem in der Schule. Wenn jemand gehbehindert ist und eine Krücke braucht, bekommt er sie. Aber mein Sohn darf in der Schule nicht mit dem Computer schreiben.“

Auch das ist ein Grund, warum er bis jetzt von allen Schulen abgewiesen wurde. In der Volksschule hat er sich dank einer einfühlsamen Lehrerin, die alle Diagnoseschritte begleitet hat, ganz gut eingelebt.


Ständige Reizüberflutung. Das Hauptproblem bei Kindern wie Elias ist aber die soziale Ebene. Emotionen sind zwar da, können aber schwer gedeutet, interpretiert und gezeigt werden. „Das Gehirn funktioniert anders, es können keine Reize gefiltert werden. Er ist einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt“, sagt Schneider. Deshalb kann er auch Mimik und Gestik nicht deuten. Alles Nonverbale, wie Blickkontakt, bleibt ihm verschlossen. Wenn er „Ich hab dich lieb, Mama“ sagt, dann klingt das kühl, wie vorprogrammiert. Auch Ironie versteht er nicht. Sprüche wie „Geht es vielleicht noch lauter?“ nimmt er wortwörtlich.

Bis Frau Schneider wusste, was es ist, das ihren Sohn anders macht, dauerte es drei Jahre. „Wir waren beim Psychiater, der wollte mich zuerst in die Rolle der überforderten alleinerziehenden Mutter drängen.“ Monate später gab es dann die erste Diagnose: die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Und gleich mit dieser Diagnose wurde das erste Medikament verschrieben: Ritalin. Die Mutter, die selbst auch in der Medizinbranche tätig ist, war skeptisch. Gegeben hat sie ihm das Medikament dann doch – und ein „völlig anderes Kind gehabt“. Sie selbst hat das Medikament, das bei Studenten als Lerndroge beliebt ist, auch wochenlang genommen, um zu wissen, was sie ihrem Sohn verabreicht. Sie hat die Behandlung abgebrochen und sich weiter auf die Suche gemacht. Eineinhalb Jahre später war die Diagnose „Asperger-Syndrom“ da.

Für Roxane Sousek, Klinische Psychologin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Med-Uni Wien, ist das der typische, aber viel zu lange Leidensweg von Asperger-Patienten: „Eine Früherkennung ist so wichtig, um mit einer umfassenden Behandlung zu beginnen. Das Asperger-Syndrom ist keine Krankheit, sondern ein Zustand. Mit Ergo- und Logotherapie sowie psychischer Betreuung kann man lernen, damit im Alltag umzugehen.“ Kritisch sieht sie, dass es zu wenige Therapieplätze gibt und die Krankenkassen kaum Kosten übernehmen.


Niedrigere Kriminalitätsrate. Sousek wünscht sich, dass das Asperger-Syndrom und Autismus generell mehr Beachtung und Rücksicht in unserer Gesellschaft finden. Das würde es für die Betroffenen, die oft als Sonderlinge gelten, wesentlich einfacher machen. Entdeckt wurde das Syndrom übrigens in den 1940er-Jahren von einem Wiener Arzt, in den 1970er-Jahren wurde es in Großbritannien „wiederentdeckt“. Seit zehn Jahren wird auch in Österreich verstärkt geforscht.

In der Öffentlichkeit wird das Syndrom aber eher in Zusammenhang mit Genies – Albert Einstein hatte es – oder Amokläufen debattiert. „Es wäre ein schrecklicher Trugschluss, das kausal zu interpretieren. Das ist Stigmatisierung“, sagt Sousek. Dazu kommt, dass zahlreiche Studien darauf hinweisen, dass autistische Menschen weniger Straftaten begehen als Normalbürger.

Regina Schneider wünscht sich vorerst vor allem eines: eine Schule, die ihren Sohn so nimmt, wie er ist, und akzeptiert, dass für manche Menschen an einem sonnigen Tag eben nur die Sonne scheint.

Asperger-Syndrom

1944 vom Wiener Kinderarzt Hans Asperger erwähnt.

Autismus. Das „Asperger Syndrom“ ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, gehört zum Autismus.

Schulalter. Wird meist im Schulalter diagnostiziert, kann aber ab drei Jahren erkannt werden.

Genetisch. Die Ursachen sind noch unbekannt, man geht von genetischen Faktoren aus. Es kommt zu einer Abweichung der Hirnentwicklung.

Mehr Buben. Das Geschlechterverhältnis liegt bei 5:1.

5 von 1000. 0,03 bis 5 pro 1000 Kinder sind autistisch.

Stärken und Schwächen.Ungefilterte Wahrnehmung, Probleme mit nonverbaler Kommunikation stehen Teil- oder Hochbegabungen und Spezialinteressen gegenüber.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2012)

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