Die Stillen sind am meisten gefährdet

Die Eingewöhnung in der Krippe fällt vielen Kindern sehr schwer. Es fehlt an psychologischen Einsichten – und an Beratung.

Wie oft Aline wohl an diesem Vormittag schon „Mama“ hervorgestoßen hat? 150 Mal, 200 Mal? Aline ist knapp zwei Jahre alt und seit vier Wochen im Kindergarten. Wann wird der Schmerz zu groß für so ein kleines Wesen?

Die Frage stellt sich nicht oft, denn Aline ist eine Ausnahme. Im Allgemeinen illustriert das Krippenleben die unglaubliche menschliche Anpassungsfähigkeit ebenso wie die Offenheit des Menschen für seine Artgenossen. Die meisten Kinder finden sich nach einer oft intensiven, aber kurzen „Eingewöhnungsphase“ gut zurecht.

Nur manche Kinder – in der Regel sind das ein, zwei pro Gruppe –, tun sich sehr, manche sogar furchtbar schwer. Was ein Kind dabei wohl erlebt, ob es in einen Abgrund fällt, wie sich diese Verlassensangst anfühlt? Man kann es nur ahnen, zumal es noch kaum Studien zur Krippeneingewöhnung gibt. Wie schön wäre es, konkrete Leidensgrenzen zu haben in Zahlen (so viele Tränen, nicht mehr), eine Kindergartenwelt mit „Nicht-Traumatisierungsgarantie“? Aber so leicht ist das nicht mit lebenden Menschen – und knappen Personalressourcen.

Zumal nicht unbedingt die Lautesten am meisten leiden. In Studien maß man mithilfe von Speichelproben das Stresshormon Cortisol bei Krippenkindern – gerade bei besonders zurückgezogenen Kindern fand sich am meisten davon. „Laute holen sich durch ihr Geschrei stressregulierende Zuwendung“, sagt Barbara Supper vom Institut für Entwicklungspsychologie der Uni Wien. „Die Stillen sind problemlos und werden dadurch eher beiseite gelassen.“ Kein Wunder, wenn – wie in Wien üblich – zwei Betreuerinnen für 15Kleinkinder verantwortlich sind. Auch ihre Ausbildung befähigt sie nicht dazu, verstecktes Leiden zu erkennen.

Bis zu acht Wochen Gewöhnungsfrist.Fünf bis acht Wochen – so lange versuchen es Wiener Kindergärtnerinnen meist, bevor sie eine Eingewöhnung endgültig als gescheitert ansehen. Dass Kinder immer wieder zu weinen beginnen, gilt nicht als beunruhigend. Das wird es erst, wenn sich das Kind gar nicht beruhigen lässt. „Wir rufen die Eltern an, wenn wir merken, dass das Kind sehr, sehr traurig ist“, sagt die pädagogische Leiterin der St.-Nikolaus-Kindertagesheimstiftung in Wien, Susanna Haas. Die meisten katholischen Krippen und Kindergärten in Wien gehören dieser Stiftung an. Anderswo handhaben das längst nicht alle so – vor allem, wenn Eltern signalisieren, dass sie nur im Notfall früher ihren Arbeitsplatz verlassen können.

Allerdings ist nicht jedes Weinen so schlimm, wie es sich anhört. „Wenn ein Kind zu Hause immer wieder normal und unbeschwert ist, muss man sich keine Sorgen machen. Da muss es schon massive Verhaltensänderungen außerhalb der Krippe geben, etwa, dass das Kind sich gar nicht mehr von der Mama trennen kann, gar nicht mehr in Spielprozesse findet mit anderen“, meint die Psychologin Natalie Bayer-Chisté. Sie leitet die „mobilen Dienste“ der St.-Nikolaus-Stiftung, die unter anderem psychologische Betreuer für Kindergärten und Eltern anbieten.

Und was ist, wenn Kindergärtnerinnen eine Eingewöhnung zu schmerzhaft für das Kind finden, die Eltern aber trotzdem darauf bestehen? Ob sie Verantwortung für das Kindeswohl übernehmen oder sich eher als Dienstleister für die Eltern sehen, hängt vom Personal ab. Man fürchte oft, selbst versagt zu haben, hört man unter der Hand von Kindergärtnern.

Mehr psychologische Beratung fordert die an der Uni Wien lehrende deutsche Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert. Viel Kinderleid ließe sich wohl auch vermeiden, wenn generell Eltern mehr geholfen würde – psychologisch und praktisch, mit der Suche nach raschen Alternativen zur Krippe, wie etwa einer Tagesmutter, oder sogar mit kurzen finanziellen Überbrückungshilfen. Viele Eltern veranschlagen aus Unwissenheit auch zu kleine „Sicherheitspolster“ für die Eingewöhnung und müssen bereits zu einem Zeitpunkt voll arbeiten, wenn sich das Kind in der Krippe noch sehr schwer tut.

Maßstab Liebe. Obwohl die Krippeneingewöhnung zu den sensibelsten Phasen im Leben eines Kleinkindes gehört, ist sie kaum erforscht und unterliegt so gut wie keiner Kontrolle und Supervision von außen. Also bleibt den Eltern derzeit nur eines: ihr Kind dort hinzugeben, wo (neben halbwegs ausreichendem Personal) viel Liebe zu den Kindern zu spüren ist – und Erfahrung, zumindest bei der Kindergartenleitung. „Mit Tricks und Kreativität lässt sich viel erreichen“, sagt Haas. „Einmal haben wir eine herausfordernde Eingewöhnung abgebrochen und nach zwei Monaten noch einmal gestartet, diesmal aber nicht mit der Mutter, die sich mit dem Loslassen sehr schwer getan hat, sondern mit der Oma. Und da hat es hervorragend geklappt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.01.2013)

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