Ihr Kinderlein, kommet: Der Zwang zur Krippe

Kinderlein kommet Zwang Krippe
Kinderlein kommet Zwang Krippe(c) APA HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Die Gesellschaft wünscht es, die Politik unterstützt es: Das Vorhaben, möglichst viele Kinder möglichst früh in Fremdbetreuung zu geben. Jetzt aber regt sich Widerstand gegen diese Maxime.

Wenn es so etwas wie ein Schlaraffenland der Kinderkrippen gibt, dann beginnt es einige Meter hinter einem Gartentor in der Peter–Jordan-Straße in Wien Döbling, in einer der vielen Nobelvillen des Bezirks, ausnahmsweise eine mit einem gewissen „Kunterbunt“-Flair. An einer kleinen Holzschleuse treffen sie zusammen, die wirkliche Welt und das kuschelige Ambiente der Kindergruppe „Spielzimmer fünf Sinne“. Dort stehen die Erzieherinnen und reden mit den Eltern, die ihre Kinder aus Mänteln und Jacken schälen. „Hier holen wir die Kinder jeden Tag aufs Neue ab“, sagt Birgit Greiner, die gemeinsam mit Sara Pancot die Kindergruppe leitet. „Wir wollen jeden Tag alles über das Kind wissen: vom Schlafverhalten über eine Verkühlung bis hin zur Scheidung der Eltern.“

Ein idealer Beginn für einen Tag in der Kinderkrippe – dem könnte auch der dänische Erziehungsexperte und Familientherapeut Jesper Juul nicht widersprechen. An vielen anderen Aufbewahrungsstätten aber hat Juul jede Menge auszusetzen – und zwar so viel, dass er jetzt eine wütende Streitschrift zu dem Thema verfasst hat: ein Plädoyer gegen den Krippenzwang.

Juul stößt mit seinem schmalen Büchlein „Wem gehören unsere Kinder?“ mitten in das Herz einer Diskussion, die sich in der letzten Zeit deutlich verändert hat. Noch vor einigen Jahren sangen alle zu dem Thema „Krippe“ von einem Chorblatt: Es gebe zu wenig leistbare Krippenplätze, um den Frauen, die das wünschten, die Rückkehr ins Arbeitsleben zu ermöglichen. Die Europäische Union machte es zu ihrem politischen Ziel, für mindestens ein Drittel der Kinder unter drei Jahren Krippenplätze zur Verfügung zu stellen. Wien legte sich besonders ins Zeug und konnte in diesem Sommer stolz melden, dass es diese Vorgabe mit 33,9 Prozent sogar übertroffen habe. Rechne man die Kinder im Alter von unter einem Jahr weg, für die es kaum Betreuungsnachfrage gebe, betrage die Versorgungsquote für Kleinkinder zwischen einem und drei Jahren sogar 50,9 Prozent, erklärte der zuständige Wiener Bildungsstadtrat Christian Oxonitsch.

Angebot an die Eltern. In diesem Wettrennen um möglichst viele Krippenplätze laufe die Gesellschaft allerdings Gefahr, über ihre eigenen Füße zu stolpern und eine Bruchlandung hinzulegen, meinen mittlerweile Skeptiker wie Jesper Juul. Ein Kritikpunkt ist, dass die bessere Versorgung mit Krippenplätzen zu einer normativen Kraft des Faktischen geworden ist: Es gibt mehr Betreuungsplätze, und deshalb müssen diese nun gefälligst auch in Anspruch genommen werden. „Eine Zwangsmaßnahme“, wettert Juul, der es ein „Privileg“ nennt, wenn Mütter ihre Kinder bis zum Alter von drei Jahren zu Hause erziehen können. „Kinderkrippen sind keine Erfindung Gottes und kein Geschenk an seine jüngsten Schäfchen. Sie sind ein Angebot der Gesellschaft an die Eltern, die im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden.“

Diese Einstellung riecht verdächtig nach neuem Konservativismus der Marke „Mütter, lasst euch nicht einreden, dass ihr alles unter einen Hut bringen müsst! Bleibt zu Hause, so lange ihr wollt und solange ihr es euch leisten könnt!“ Das aber passt so gar nicht zu dem Bild, das sich seine zahlreichen Anhänger auch in Österreich von Juul machen – gilt der Däne doch als Verfechter einer gelassenen, pragmatischen und liebevollen Erziehungskultur mit starker Betonung der Verantwortung beider Elternteile sowie der individuellen Entfaltung jedes einzelnen Kindes.

Quantität statt Qualität. Genau bei diesem letzten Punkt aber beginnt Juuls Kritik zu greifen: dass nämlich in der Betreuung der Jüngsten Quantität auf Kosten von Qualität gehe; die Erfüllung politischer Zielvorgaben darüber hinwegtäusche, welch schlechte Bedingungen teilweise in den rasch geschaffenen Krippen geboten werde. Zu den wichtigsten Punkten zählt die mangelnde Ausbildung der – fast ausschließlich weiblichen – Betreuer und Erzieher, der schlechte Betreuungsschlüssel und die Tatsache, dass zu kleine Kinder täglich zu viel Zeit in einer Kinderkrippe verbringen.

Viele Mütter und Väter sehen diese Schwachstellen zwar, wissen sich aber aus dem Dilemma zwischen elterlicher Verantwortung (beim Kind bleiben) und wirtschaftlicher Verpflichtung (arbeiten gehen müssen) nicht zu befreien. Birgit Greiner und Sara Pancot ging es nicht anders, dann aber wagten die beiden Frauen den Sprung ins kalte Wasser. Sie lernten sich kennen, als ihre Kinder gemeinsam in einen Kindergarten gingen, der niemanden so recht beeindruckte. „So etwas muss doch besser zu machen sein“, sagte das Duo und komplettierte den ersten Bildungsweg – Kunstgeschichte – mit einem zweiten, der sie in Richtung Kindergruppenbetreuung führte.

Laboratorium der Sinne. Mit der Kindergruppe „Spielzimmer fünf Sinne“ verwirklichten Greiner und Pancot ihren ganz persönlichen Traum davon, wie Frühbetreuung von Kindern idealerweise aussehen könnte. Sie vereinen Elemente von Montessori, Emmy Pickler und dem futuristischen Künstler Bruno Munari, dem das Laboratorium der Sinne geschuldet ist.

Die Kindergruppe wird deutsch-italienisch geführt, es gibt einen großen Garten, und es wird jeden Tag frisch vor Ort gekocht. Die Kinder haben fixe Routinen und die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Die Eingewöhnung dauert vier Wochen, während derer das neue Kind eine Betreuerin ganz für sich hat. Der Kontakt mit den Eltern ist intensiv, es wird jeden Tag geredet, alle drei Monate gibt es einen Elternabend. Die maximale Stundenanzahl ist begrenzt, nur an drei Tagen ist die Kindergruppe bis 15 Uhr geöffnet: „29Stunden pro Woche reichen völlig aus, da das Programm für so kleine Kinder relativ intensiv ist“, meint Greiner.

Trotz dieser arbeitsfernen Öffnungszeiten ist die Nachfrage gewaltig. „Wir führen derzeit zwei Gruppen im Haus, eine dritte ist bereits in Vorbereitung“, meint Greiner. Und auch die Kosten schrecken Eltern nicht ab, denn Qualität kostet, auch bei der Frühbetreuung. Obwohl das „Spielzimmer fünf Sinne“ die entsprechende Förderung der Stadt Wien erhält, müssen Eltern für die Maximalvariante von 29Wochenstunden nochmal 326 Euro drauflegen.

Mit dieser Luxusvariante lassen sich viele der Probleme wettmachen, die erst langsam im Zusammenhang mit der Fremdbetreuung von Kindern unter drei Jahren identifiziert werden. Früher ist man einfach davon ausgegangen, dass es in einem so jungen Alter egal ist, bei wem das Kind seine Zeit verbringt: Betreuung wurde dabei mit Verwahrung gleichgesetzt. Wurde diese auch noch ideologisch verbrämt, wie in der ehemaligen DDR, bekam die Kinderkrippe schnell einen ganz schlechten Ruf. Nicht umsonst ist die Diskussion in Deutschland eine besonders heftige – viel heftiger etwa als in Frankreich oder Belgien, wo „Crèches“ für Babys ab dem Alter von vier Monaten durchaus an der Tagesordnung sind. Französische Feministinnen wie Elisabeth Badinter spötteln gern über die Obsession deutscher Frauen mit der „Mutterliebe“. Das ist allerdings ein Klischee – genauso wie jenes, dass französische Mütter ihre Kinder grundsätzlich schon ab dem Säuglingsalter in der Krippe deponieren.

Es ist allerdings mehr als diese Art von „Zickenkrieg“ (Jesper Juul) zwischen Müttern, die sich ihre jeweiligen Lebensmodelle um die Ohren hauen, die Eltern und Experten zu denken gibt. Untersuchungen haben gezeigt, dass 22 Prozent der Ein- bis Dreijährigen in der Krippe ein relativ hohes Niveau des Stresshormons Cortisol aufweisen (siehe links unten).

Zu viele Reize, zu wenig Rückzug. Diese Untersuchung wird durch ein ambitioniertes Projekt der Uni Wien auf den Prüfstand gestellt. Der Bildungswissenschaftler Wilfried Datler und die Psychologin und Bindungsforscherin Lieselotte Ahnert führten zwischen 2007 und 2012 die große „Wiener Kinderkrippenstudie“ durch. Endergebnisse liegen noch keine vor, Zwischenergebnisse bestätigen aber, dass die Stressverarbeitung von Kindern unter 36 Monaten in einer Krippe problematisch verlaufen kann. Zwar sind Kinder in diesem Alter sehr anpassungsfähig, doch leiden viele von ihnen unter einer Reizüberflutung, unter zu wenig Rückzugsmöglichkeiten sowie darunter, dass sie auf Grund des ungünstigen Betreuungsschlüssels keine gesicherte Bindung zu einer der Betreuerinnen aufbauen können. Diese gesicherten Bindungen sind für Kinder unter zwei Jahren allerdings essenziell und entscheiden über die weitere soziale Entwicklung sowie darüber, ob diese Kinder später selbst in der Lage sein werden, Beziehungen zu führen.

Der Betreuungsschlüssel ist einer der Hauptkritikpunkte in der Krippendiskussion: 1:8 (Erzieherin zu Kindern) gilt in Österreich bereits als „gut“. Anderswo allerdings nicht: 2009 erreichte Österreich in einem OECD-Vergleich der Betreuung von Unter-Dreijährigen mit einem Schlüssel von 1:8,7 nur den 19. von 20 Plätzen. Lieselotte Ahnert meint, sie könne mit 1:5 leben. Internationale Empfehlungen sprechen gar von 1:3.

Das erreicht allerdings kaum ein Land. Denn das dafür notwendige Personal muss erst einmal gefunden, entsprechend ausgebildet und entlohnt werden. Und das kostet Geld, das sich Staaten gerade in Zeiten wirtschaftlicher Flaute nur bedingt leisten wollen. Das Resultat ist eine oft suboptimale Lösung bei der Betreuung von Kleinkindern.

Das kollektive Kind. Das sei allerdings nicht die Schuld der Erzieher, sagen Experten, sondern der Gesellschaft, die ihre wertvollsten Güter halbherzig verwalte. „Wenn unsere Gesellschaft ihre Kinder in Betreuungsinstitutionen untergebracht sehen will – und das scheint der Fall zu sein–, muss sie auch die Verantwortung übernehmen, die mit dieser Aufgabe einhergeht. Das bedeutet, dass sie ihren Beschäftigten diese Verantwortung überträgt und sicherstellen muss, dass sie die erforderlichen Qualifikationen besitzen, ihrer Verantwortung auch gerecht zu werden“, schreibt Jesper Juul.

Seine Empfehlung lautet, den Ablauf in einer Kinderkrippe überhaupt komplett zu überdenken und von dem (praktikablen) kollektivistischen Ansatz abzugehen, der vorschreibt, dass alle Kinder gleichzeitig zu essen und zu schlafen haben. Ohne mehr Anerkennung der Individualität werde es nicht gelingen, das Potenzial jedes einzelnen Kindes zu erkennen und seine Stärken zu fördern anstatt seine Schwächen zu betonen.

So manche Mütter und Väter werden durch diese Krippenkontroverse bestimmt verunsichert. „Nehmen, was man kriegen kann“, lautete bisher die Maxime in Zeiten von hoher Nachfrage und relativ geringem Angebot. Wer da zu hohe Ansprüche stellt, läuft Gefahr, ohne Betreuungsplatz für sein Kind dazustehen. Dieser Defätismus ist allerdings gerade bei einem so grundsätzlichen Thema wie der Kinderbetreuung nicht angebracht – geht es doch sowohl um das Seelenheil der (fremdbetreuten) Kinder wie auch um das ihrer Eltern. Da steht allen Beteiligten nur das Beste zu. Und das ist ein Recht, für das es sich durchaus zu kämpfen lohnt.

Jesper Juuls Thesen

Kinderkrippen dienen den Bedürfnissen von Familien, in denen beide Elternteile möglichst bald nach der Geburt wieder arbeiten wollen oder müssen, nicht den Bedürfnissen der Kinder.

Die Entscheidung für oder gegen eine Krippe bzw. für welche Art von Krippe muss von den Eltern nach individuellen Kriterien getroffen werden. Die Eltern trauen sich dabei aber nicht, viele Forderungen zu stellen. Für sie ist der wichtigste Punkt, dass die Kinderbetreuung funktioniert: Davon hängt oft das gesamte Lebensmodell ab.

Eine Gesellschaft, die ihre Kinder in Betreuungseinrichtungen unterbringen will, stimmt damit auch zu, einen Teil der Verantwortung für die Erziehung dieser Kinder zu übernehmen. Dann muss sie aber auch das zuständige Personal entsprechend ausbilden und bezahlen.

Die Definitionsmacht, ob ein Kind problematisch ist, liegt heute bei (vorwiegend) weiblichen Erziehern, oft ohne entsprechendes Fachwissen. Als „gute Kinder“ gelten vor allem jene, die sich nahtlos in eine Erziehungsinstitution einfügen. Mädchen schneiden dabei deutlich besser ab als Buben. Dagegen hilft nur bessere Kommunikation zwischen Eltern und Betreuern.

Die Ausbildung muss so reformiert werden, dass Erzieher und Betreuer lernen, das individuelle Potenzial jedes Kindes zu erkennen und zu fördern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.01.2013)

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