Die wechselhafte Geschichte der Fruchtbarkeit

Die Theorie des demografischen Übergangs erklärt die Veränderung der Bevölkerungsstruktur nur zum Teil.

In unseren Köpfen hat sich das Bild eingebrannt, dass die Menschen früher recht jung heirateten und eine große Kinderschar hatten. Das stimmt aber für die meisten Epochen seit dem Mittelalter nicht, heißt es in dem Forschungsbericht „Zukunft mit Kindern“. Schon in der Frühen Neuzeit habe sich in Europa ein Muster herausgebildet, das Heiraten an die Fähigkeit band, einen eigenen Haushalt zu führen. Die Folge war ein hohes Heiratsalter, im Durchschnitt bei 25 bis 27 Jahren. Das begrenzte die reproduktive Spanne auf rund 15 Jahre – ähnlich wie heute.

Die Abstände zwischen den Geburten lagen bei zumindest zwei bis zweieinhalb Jahren – u.a., weil schon seinerzeit viele Menschen bewusste Geburtenkontrolle vornahmen, von Enthaltsamkeit über Coitus interruptus bis hin zum Einsatz zweifelhafter Methoden wie dem Einführen von Zitronenscheiben oder von Bienenwachs. Wegen der gleichzeitig hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit hatten die meisten Familien höchstens zwei oder drei (überlebende) Kinder. Kinderreiche Familien in großer Zahl gab es in Europa nur in einer relativ kurzen Epoche: Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Einen Grund dafür erklärt die Theorie des „demografischen Übergangs“: Auf dem Weg in die Moderne sank zuerst die Kindersterblichkeit (wegen medizinischer Fortschritte), erst mit mehreren Jahrzehnten Verzögerung ging auch die Fertilität zurück (weil kulturelle und soziale Normen länger wirken). Die Zeit dazwischen war außergewöhnlich kinderreich. Diese Theorie ist aber höchstens die halbe Wahrheit: Das Modell wird heute als zu vereinfachend kritisiert, weil es viele Einflussfaktoren auf die Kinderzahl nicht berücksichtigt. So ist z.B. Ende des 19.Jahrhunderts, als sich das bürgerliche Familienmodell in großen Teilen der Bevölkerung durchsetzte, das traditionell hohe Heiratsalter deutlich gesunken – was die Zahl der Geburten pro Frau nach oben trieb.

„Die bisherige Entwicklung der menschlichen Fortpflanzung war vielfältig und wandelbar“, resümieren die Autoren. Und: „Ihre Zukunft ist offen.“ In der Debatte über die Zukunft der Fertilität gibt es zwei Denkströmungen, die zu unterschiedlichen Prognosen führen. Die einen meinen, dass der Mensch einen angeborenen Wunsch habe, sich fortzupflanzen, und die derzeit niedrige Fertilität nur auf ungünstige Rahmenbedingungen zurückzuführen sei. Wenn sich die Bedingungen in der „familienpolitischen Trias“ – Infrastruktur (Kinderbetreuung), Geld (Familienförderung) und Zeit (flexible Karenz- oder Arbeitszeiten) – ändern, dann könnte die Kinderzahl wieder steigen. Die andere Meinung besagt, dass der kulturelle Wandel hin zu mehr Individualismus unumkehrbar sei und sich ein Ideal der Kinderlosigkeit herausbilde – was zu (noch) weniger Rücksichtnahme auf Familien führe.

Der aktuelle Forschungsstand ermögliche kein eindeutiges Votum für eine der Sichtweisen, so die Experten. Auch wenn es derzeit Anzeichen gebe, dass sich mit steigendem gesellschaftlichen Entwicklungsstand auch die Geburtenzahlen wieder erhöhen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2013)

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