"... und dann ist das Jugendamt gekommen"

Das Paar mit ihrem gemeinsamen Sohn.
Das Paar mit ihrem gemeinsamen Sohn.Hochstöger
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Einer jungen Mutter werden im Laufe der Jahre fünf Kinder vom Jugendamt abgenommen und zu Pflegeeltern gebracht. Sie hat sie seit mehreren Jahren kaum gesehen. Zu Unrecht, behauptet sie. Zu Recht, sagt das Jugendamt.

Für Andrea F. (Name geändert, der Redaktion bekannt) beginnt das Unglück mit einer Sozialarbeiterin. Ihr hat sie sich im Krankenhaus anvertraut. Im Nachhinein, sagt sie, „hat mir das das Genick gebrochen“. Die 30-Jährige sitzt in der Kanzlei ihres Anwaltes in Wien. Auf dem Schoß ihr jüngstes Kind, ein Sohn, ein Jahr alt. Neugierig krabbelt er durch das Zimmer, lächelt, sucht immer wieder den Kontakt zur Mutter. Es ist nicht ihr einziges Kind. F. wurden in den vergangenen Jahren fünf Kinder vom Jugendamt abgenommen. Zu Unrecht, wie sie findet. Zu Recht, sagt das Jugendamt.

Dass das Jugendamt Eltern Kinder abnimmt, kommt gar nicht selten vor. Allein in Wien gab es im Vorjahr 658 Fälle. Häufig ist der Grund Verwahrlosung. Ein tragisches Beispiel, wie das enden kann, war zuletzt anhand eines Falls in der Steiermark zu sehen – zwei Eltern wurden verurteilt, weil die Zähne ihrer vierjährigen Tochter völlig „verfault“ waren. Der Fall kam erst ins Rollen, nachdem das Kind bei der notwendigen Zahnoperation starb. In diesem Fall war das Jugendamt wohl zu spät eingeschritten.


Jahrelanger Streit. Einmal abgenommen, werden die Kinder ins Krisenzentrum gebracht, von Krisenpflegeeltern betreut und in betreuten WGs großgezogen. Für die leiblichen Eltern ist das oft erst der Anfang. In jahrelangen Streitereien versuchen sie, die Kinder zurückzubekommen, wenden sich an Medien, Anwälte, Bekannte. Für Außenstehende ist es oft schwierig, sich ein Bild zu machen. Wer hat recht? Eine Geschichte, erzählt von zwei Seiten.

Bei Andrea F. beginnt alles mit der Geburt ihres zweiten Sohnes 2005. Eine Sozialarbeiterin macht eine Gefährdungsmeldung beim Jugendamt. Das heißt, das Amt soll sich die Mutter mit ihrem Kind genauer ansehen. F. ist zu diesem Zeitpunkt 22 und bereits Mutter des fünfjährigen Philipp. Sie selbst stammt aus einer zerrütteten Familie, war im Heim. „Ich wusste nichts von der Meldung“, sagt sie heute. Umso überraschter ist sie, als das Jugendamt wenige Wochen später vor ihrer Türe steht. „Auf einmal steht eine Fremde da, die sagt, sie will rein!“ Das lässt sie nicht zu.

Kurz darauf folgt ein Anruf. Sie muss sich beim Amt melden. F. bekommt es mit der Angst zu tun. „Man denkt sich: Oh mein Gott, was habe ich falsch gemacht?“ Der Sohn muss zum Psychologen. Am Ende der Therapie gibt es ein Gespräch. „Alles in Ordnung, aber wehe, ich höre noch etwas von ihnen“, sagt die Sozialarbeiterin.

Überreaktion. Es sind Mittel, wie sie das Jugendamt oft verwendet, sagt F. Anwalt Alexander Krasser, der auf Obsorgefälle spezialisiert ist. „Auf die Eltern wird so lange Druck ausgeübt, bis sie emotional überreagieren. Dann erst gibt es einen Grund, die Kinder abzunehmen, weil das Jugendamt darin einen Beweis für die Unfähigkeit zur Erziehung sieht.“ Auch bei F. sollte sich die Lage zuspitzen.

Nach einer Magen-Darm-Grippe muss die Familie ins Krankenhaus. Die Ärzte stellen einen schweren Eisenmangel beim Baby fest. Wieder ist das Jugendamt alarmiert. Nun muss sie regelmäßig zur Blutabnahme mit den Kindern. „Die Leute im Labor haben mich gefragt, warum ich überhaupt dort bin“, sagt sie. Aber sie will das Jugendamt nicht verärgern. Die Lebenssituation ist in dieser Zeit freilich nicht optimal. Sie lebt vom Karenzgeld, der neue Freund ist arbeitslos, die Väter der Buben verschwunden. Trotzdem bekommt sie zwei weitere Kinder. „Die Sozialarbeiterin war ganz böse darüber.“ Auch die Beziehung zum Freund läuft nicht ideal. Er liegt ständig auf der Couch, sie hat keine Kraft, sich auch noch um ihn zu kümmern. Ihre ganze Energie gilt den Kindern.

Kindesabnahme mit der Wega. Mit dem Freund gibt es oft Streit. Drei Mal kommt die Polizei. Der Freund soll gehen, dann doch wieder nicht. „Ich wollte, dass die Kinder einen Vater haben.“ In dieser Zeit bekommt sie regelmäßig Besuch von einer Sozialpädagogin. Ziele, was sie ändern soll, werden nicht vereinbart. Und noch immer weiß sie nicht, was man ihr überhaupt vorwirft.

Eine Zeit lang geht das gut. Bis zu jener Nacht im Herbst 2008, in der sie wieder mithilfe der Polizei ihren Freund aus der Wohnung haben will. Dann hat das Jugendamt genug. Sie solle mit den Kindern vorbeikommen, heißt es. Es ist der 5. Dezember 2008. Am selben Tag stehen kurz vor dem Termin Sozialarbeiter, Polizei und eine Wega-Einheit vor der Türe. „Sie haben mir die Kinder vor Polizisten mit dem Sturmgewehr abgenommen“, sagt sie. Ihr Sohn wird vor versammelter Klasse aus der Volksschule geholt. Er ist zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt, ihre jüngste Tochter sieben Monate.

Es folgen Wochen, in denen sie versucht, ihre Kinder zurückzubekommen. Monate, in denen sie in ein System gerät, in dem der Ausgang, wie sie sagt, vorherbestimmt ist. Ein Gutachten über ihre psychische Gesundheit, sagt sie, wird in fünf Minuten erstellt (Diagnose: Borderline). Ständig wird ihr vorgeworfen, dass sie zu viele Kinder habe. „Gehen Sie lieber arbeiten“, heißt es. Gegengutachten, in denen sie als gesund gilt, helfen nichts. In schlimmen Stunden denkt sie an Selbstmord. Aber „man tut es nicht“. Sie hat ohnehin bald ein fünftes Kind zu versorgen.

Der Bub kommt 2009 in der Steiermark zur Welt – und wird ihr am vierten Tag vom Jugendamt weggenommen. Einen Gerichtsbeschluss braucht es dafür nicht. Die Mutter wehrt sich – und wird für zwei Tage in die Psychiatrie gesteckt.

Mehrere Jahre sind seither vergangen. Ihr Kinder hat sie kaum gesehen. Der Besuch werde ihr verweigert. Ihr derzeitiger Anwalt darf ihren Akt nicht einsehen. Warum, weiß er nicht. Er wartet auf die Erklärung der Richterin. Der Bub auf ihrem Arm ist das sechste Kind. Von einem neuen Vater. Der heißt Bertram L. (Name geändert) – und hat auch schon einen schweren Schicksalsschlag erlebt: Er ist der leibliche Vater von Luca, jenem Bub, der 2007 starb, nachdem ihn der neue Freund seiner Mutter mehrfach misshandelt hatte. Der Fall sorgte landesweit für Erschütterung.

Das gemeinsame Kind von H. und F. hätte das Paar vergangenes Jahr beinahe auch verloren – an das Jugendamt. Doch ein Arzt und ein Anwalt konnten die Abnahme im Krankenhaus – dieses Mal in Niederösterreich – unter Aufbringung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindern. Niemand hätte eine Begründung für die Abnahme gehabt, sagt der Anwalt. „Es gab nur fadenscheinige Argumente wie Überlastung oder das bedenkliche Argument, sie hätte zu viele Kinder.“ Er meint, Kinder würden viel zu schnell abgenommen. „Da hat sich ein ganzer Wirtschaftszweig entwickelt.“ Er hält F. für eine gute Mutter.

Die 30-Jährige wohnt mittlerweile in Niederösterreich. Damit ist auch nicht mehr das Wiener Jugendamt zuständig. Von den niederösterreichischen Beamten wird sie derzeit in Ruhe gelassen. Aber sie will weiterhin um ihre Kinder und für ihre Rechte kämpfen. Das Baby ist mittlerweile im Arm seines Vaters eingeschlafen. Als es aufwacht, verlangt es nach ihr.

Seitenwechsel. Für das Jugendamt beginnt die Geschichte von Andrea F. mit einer Aufzählung. „Grobe Verwahrlosung, Mangelernährung, zu dünne Bekleidung im Winter, psychiatrische Auffälligkeiten, Handgreiflichkeiten zwischen Vater und Mutter“ fasst Jugendamtssprecherin Herta Staffa den Akt zusammen. Aufgefallen ist F. zum ersten Mal 2005 im Krankenhaus bei der Geburt ihres zweiten Sohnes. Eine Sozialarbeiterin hat im Krankenhaus eine Gefährdungsmeldung gemacht. Im Laufe der Zeit sollten zwölf weitere folgen: von Nachbarn, Lehrern, Polizisten – alle unabhängig voneinander.

Im ersten Schritt muss sie regelmäßig zur Elternberatung, die Kinder wärmer anziehen. Der älteste Sohn muss zur Therapie, weil er Entwicklungsverzögerungen aufweist. „Sie schien als Mutter überfordert“, sagt Staffa. 2006, ein Jahr nach der Geburt ihres zweiten Sohnes, werden ihr eine Identitätskrise und gestörtes Essverhalten in einem Wiener Krankenhaus diagnostiziert.

Sie selbst gilt im Jugendamt als kooperativ und bemüht. Aber die Situation verschlechtert sich, als der neue Freund einzieht. Es gibt oft Streit, sie wirft den Kindesvater raus und lässt ihn wieder rein. Die Nachbarn beschweren sich. Gleichzeitig strebt Wiener Wohnen ein Delogierungsverfahren wegen unleidlichen Verhaltens an.

Das dritte Kind wird geboren, später das vierte. Im Sommer 2008 bringt es die kleine Familie auf vier Polizeieinsätze. Die Eltern lieben und hassen sich, werden zum Teil gewalttätig vor den Kindern. „Was ist denn das, wenn Kinder in der Früh nicht wissen, ob sich die Eltern heute lieb haben oder das Messer an die Brust setzen?“, sagt Staffa. Schule und Kindergarten melden, dass die Kinder unregelmäßig kommen. Es ist Winter, sie sind zu leicht bekleidet und wirken verschmutzt. Zu Hause herrscht Chaos.

Im November 2008 kommt wieder die Polizei. Es ist 0.35 Uhr. Die Polizisten sehen alle Kinder hellwach in der Wohnung herumlaufen. Zum Teil noch nicht im Pyjama, eines mit bemaltem Gesicht, ein anderes knabbert an einer Wurst. In der Wohnung finden die Beamten keine Betten oder Matratzen, sondern nur Schlafsäcke.

Da hat das Jugendamt genug. Drei Jahre lang hat die Familie Betreuung durch eine Sozialarbeiterin bekommen. Auch die sagt: „Es gibt keine Perspektive.“ Im Dezember 2008 werden ihr die Kinder abgenommen. Eines wird direkt aus der Schule geholt. Die Polizei ist bei der Abnahme anwesend. Einen Wega-Einsatz dokumentieren die Akten nicht. Im Akt des Jugendamtes wird später stehen, dass F. „eigene Fehler nicht erkennen will“. Im September 2009 entscheidet das Pflegschaftsgericht gegen sie. Wegen einer Persönlichkeitsstörung in Form eines Borderline-Typus und weil sie die Bedürfnisse der Kinder nicht erkennen könne. Weder emotional noch psychisch.

Kampf um die Kinder.
Doch F. gibt nicht auf. Sie schreibt Briefe, bittet Politiker und die Volksanwaltschaft um Hilfe. Sie wird das Gerichtsurteil anfechten. Doch immer verliert sie.

Die Abnahme des fünften Kindes ist in Wien hingegen kaum dokumentiert. Das steirische Krankenhaus hätte das Jugendamt informiert, „wegen des auffälligen Verhaltens der Patientin“. Dass einer jungen Mutter nach vier Tagen das Baby abgenommen wird, empfindet Staffa als rechtmäßig. „Ist ein Kind ein Versuchsobjekt? Wie viel darf ich einem Kind zumuten, wenn es seit Jahren keine Änderung im Verhalten der Mutter gibt?“, sagt sie.

Laut Jugendamt darf sie ihre Kinder, die alle bei Pflegeeltern sind, regelmäßig sehen. Also fast. Weil es bei zwei Kindern eine gefährliche Situation bei einem Besuch gab, muss sie zuerst ein Gespräch mit einer Sozialarbeiterin absolvieren. „Was bis heute nicht passiert ist“, sagt Staffa. Von einem sechsten Kind wisse sie nichts. „Wenn Frau F. nicht mehr in Wien gemeldet ist, dann sind wir dafür nicht zuständig“, sagt sie. Hier endet der Akt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2013)

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