Wenn die Polizei vor der Türe steht: Kampf ums Kindeswohl

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Einer drogenkranken Mutter ein Baby abzunehmen gehört zu den Aufgaben des Jugendamtes. Nicht nur eine solche Intervention an sich, sondern auch die daran anknüpfenden Entwicklungen führen mitunter zu Komplikationen.

Sie war 20, er 21, als sie Eltern wurden. Ihr beider Kind, ein hübsches, blondes Mädchen, hineingeboren in bescheidene Verhältnisse, starb, als es vier Jahre alt war. Und zwar an den Folgen einer Operation. Am 11. Juni 2012 mussten dem Mädchen im Grazer LKH-Uni-Klinikum zehn karieszerfressene Milchzähne operativ entfernt werden. Dies geschah unter Vollnarkose – aus der wachte das Kind wegen Lungenversagens nicht mehr auf.

Die Ärzte haben nichts falsch gemacht, sollte es später heißen. Die Eltern hingegen schon. Sie standen, wie in der „Presse“-Samstagausgabe berichtet, in Leoben vor dem Richter. Die Mutter erhielt fünf, der Vater sieben Monate Haft auf Bewährung.

Stichwort Vernachlässigung. Hier machen Österreichs Fürsorgeeinrichtungen permanent beklemmende Erfahrungen: Etwa 10.500 Gefährdungsabklärungen (Einschreiten nach einer von außen an das Jugendamt herangetragenen Gefahrenmeldung) nimmt das größte Jugendamt Österreichs, jenes in Wien, jährlich vor; Tendenz stagnierend bis leicht sinkend. In ungefähr der Hälfte der Fälle liegt Vernachlässigung vor. Und zwar in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Da werden schwere Defizite bei der elterlichen Zuwendung, hygienische Mängel, falsche oder mangelhafte Ernährung, oder eben Vernachlässigung der Gesundheit, in dem steirischen Fall eben der Zahngesundheit, festgestellt.

Das Strafgesetzbuch kennt passend dazu den Paragrafen 92. Unter dem Titel „Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen“ wird mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe belegt, „wer einem anderen, der seiner Fürsorge oder Obhut untersteht und der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder wegen Gebrechlichkeit, Krankheit oder einer geistigen Behinderung wehrlos ist, körperliche oder seelische Qualen zufügt“. Auch die Eltern der verstorbenen Vierjährigen wurden demgemäß verurteilt.

Gewalt und Missbrauch.
„Ich habe schon den Eindruck, dass wir mehr Fälle von schwerer Vernachlässigung durch zunehmende Armut sehen“, sagt etwa die Wiener Jugendamts-Mitarbeiterin Christa Strasser, Vizeleiterin der Sozialarbeit für den 15. Wiener Gemeindebezirk. Auch sie ist auf Meldungen angewiesen, die eine (mutmaßliche) Gefährdung von Kindern betreffen. Die meisten derartigen Meldungen kommen von der Polizei (um die 30 Prozent), dahinter rangieren Schulen oder Kindergärten (knapp 20 Prozent). Freilich langen auch Anzeigen von Spitälern, von Ärzten, von Nachbarn – oder anonyme Anzeigen ein. Wenn dann das Jugendamt ausrückt, bieten sich den Mitarbeitern zuweilen Szenen, die rasches Handeln erfordern. Dabei geht es dann – abgesehen von Vernachlässigung – mitunter um andere Formen von Gefährdung: psychische Gewalt, physische Gewalt, sexueller Missbrauch.

Wird Gefahr im Verzug angenommen, ist das Amt zur vorläufigen Kindesabnahme berechtigt – also ohne Gerichtsbeschluss. Es muss aber binnen acht Tagen beim zuständigen Bezirksgericht einen Antrag auf Obsorge für das Kind stellen. Freilich ist die Einschätzung, wann nun tatsächlich unmittelbare Gefahr vorliegt, eine durchaus subjektive Angelegenheit. Insofern hat das Jugendamt auch eine gewisse Macht. „Aber Kinder werden nicht einfach so weggenommen, so etwas geschieht natürlich nicht aus Jux und Tollerei“, meint Familienrichterin Doris Täubel-Weinreich, die Vorsitzende der Fachgruppe Familienrecht der österreichischen Richtervereinigung. Dennoch: Kindesabnahmen führen oft zu dramatischen Szenen. Sowohl Sozialarbeiter als auch Familienrichter berichteten der „Presse“, dass es in Wien immer wieder Einsätze der Polizeieinheit Wega gebe, wenn Eltern nicht mit dem Jugendamt kooperieren. Nach der Abnahme kommen Babys zu sogenannten Krisenpflegeeltern, kleinere Kinder zu Pflegeeltern. Praktisches Beispiel für ersteren Fall: Ein neugeborenes Kind wird einer drogenkranken Mutter abgenommen.

Verbessertes Gesetz. Auf die häufige Kritik, dass nach einer Kindesabnahme ein Gericht zwar über die Obsorge, nicht aber über die Zulässigkeit der Abnahme samt Pflegemaßnahmen entscheiden müsse, hat der Gesetzgeber reagiert. Seit Februar dieses Jahres muss das Gericht auf Antrag des Kindes „oder der Person, in deren Obsorge eingegriffen wurde“, wie es im Außerstreitgesetz heißt, „unverzüglich, tunlichst binnen vier Wochen“ aussprechen, ob die Maßnahmen des Jugendwohlfahrtsträgers (des Jugendamts) überhaupt zulässig waren. Waren sie unzulässig, kommt das Kind wieder an seinen alten Platz. Dies ist aber die Ausnahme. Meist folgt das Familiengericht den Angaben des Jugendamtes.

Als Schnittstelle zwischen Gericht und Jugendamt fungiert die aus Pädagogen, Sozialarbeitern und Psychologen bestehende Familiengerichtshilfe. Sie ist derzeit im Aufbau begriffen. Ihre Aufgabe ist es, im Auftrag des Gerichts Erhebungen durchzuführen und Berichte zu legen. So sollen die Richter vorab Informationen über Familienverhältnisse bekommen, damit ihnen die Entscheidung über die Obsorge leichter fällt. Aufgabe der Familiengerichtshilfe ist es auch, einvernehmliche Lösungen zu fördern. Im Vollausbau mit Juli nächsten Jahres sollen dann um die 200 Familiengerichtshelfer an 25 Standorten (vor allem in Ballungsräumen) im Einsatz sein.

Erst Ende August dieses Jahres (und damit mediengerecht im Wahlkampf) hat Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) die Wiener Familiengerichtshilfe im 3. Bezirk (Landstraße) eröffnet. Anfänglich arbeiteten in dem Gebäude 35 Mediatoren, künftig sollen es 52 sein. Karl meinte damals: „Das Kindeswohl steht ganz klar im Mittelpunkt und das nicht nur am Papier, sondern auch in der Praxis.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2013)

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