Kindergarten: "Ich frage mich, wer da noch profitiert"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Kinder könnten sich in Österreichs Kindergärten nicht optimal entwickeln, sagt Expertin Raphaela Keller - und schildert die Praxis.

Die Presse: Den Kindergärten wurde im Regierungsprogramm eigentlich viel Platz eingeräumt. Sind Sie zufrieden?

Raphaela Keller: Das lässt sich tatsächlich nicht leugnen. Ein Problem gibt es aber: Der Qualitätsanspruch kommt zu wenig zum Tragen.

Wo bräuchte es mehr Qualität?

Wir vermissen die Bestrebung, die Ausbildung zu reformieren und  die Kinderanzahl in den Gruppen zu reduzieren. Es braucht Zeit für jedes Kind, Teamgespräche und Elternarbeit.

Wenn es an Qualität fehlt, dann heißt das, dass die Kinder derzeit nur suboptimal betreut werden.

Zur Person

Das lässt sich tatsächlich so zuspitzen. Wir haben zu viele Kinder pro Gruppe und wir haben einen eklatanten Pädagoginnenmangel. Es steht nicht einmal in jeder Gruppe eine ausgebildete Pädagogin bzw. ein Pädagoge. Das ist ein Manko an Bildungsqualität.

Könnten sich Kinder unter anderen Umständen besser entwickeln?

Auf jeden Fall. Die optimalen Bedingungen, die national und international empfohlen werden, erreichen wir nicht einmal annähernd. Eigentlich sollte der Betreuungsschlüssel in einem Halbtagskindergarten höchstens eins zu zehn sein – also eine Pädagogin bzw. ein Pädagoge auf zehn Kinder. In Österreich ist dieser Schlüssel unter den besten Bedingungen bei eins zu zwanzig.

Raphaela Keller ist Vorsitzende des Dachverbands der Kindergarten- und HortpädagogInnen (ÖDKH) und kämpft in dieser Funktion um bessere Bedingungen für den elementaren Bildungsbereich.

Wem schadet das mehr? Den überlasteten Pädagoginnen oder den Kindern?

Das lässt sich nicht auseinander dividieren. Ich schildere eine Situation aus der Praxis: Eine Pädagogin schaut sich mit drei Kindern ein Bilderbuch an und versucht Sprachfertigkeit und Konzentrationsfähigkeit zu fördern. Nebenan streiten zwei Kinder um einen Baustein, ein anderes Kind kommt und schreit: "Ich muss aufs Klo und bekomme die Hose nicht auf." Beim Eingang steht eine Mutter und will dringend mit der Pädagogin sprechen. Und gleichzeitig kommt die Kindergartenleiterin und sagt: "Kollegin, die Liste haben sie noch nicht abgegeben." Das ist der Alltag. Wer hier noch profitiert, das frage ich mich.

Wird dem Kindergarten zu viel überantwortet?

Ja. Und jetzt ist Feuer am Dach. Denn der frühe Bildungsbereich ist enorm unterfinanziert und unterbewertet.

Im Regierungsprogramm ist die Einführung einer verpflichtende Sprachstandsfeststellung mit vier Jahren festgeschrieben. Eine gute Idee?

Es ist gut, dass genau hingeschaut wird. Es geht darum zu sehen, dass nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund Probleme mit der deutschen Sprache haben, sondern auch Kinder mit österreichischen Wurzeln. Sie haben genauso ein Manko bei der Sprachentwicklung. Es sollte untersucht werden, warum das so ist. Warum ist die deutsche Sprache so schlecht ausgebildet?

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ja. Wir haben zu wenig Gesprächspartner. Außerdem verliert das Buch immer mehr an Bedeutung, und es wird zu viel ferngesehen.

Wie müsste optimale Sprachförderung aussehen?

Im letzten Kindergartenjahr mit gezielter Sprachförderung zu beginnen ist jedenfalls zu spät. Es ist ein Irrglaube, dass wir Fünfjährige nur in ein Kurssystem stecken müssen, damit sie mit perfekten Deutschkenntnissen rauskommen. Kein Kind lernt, wenn es nicht Beziehungen aufbauen kann. Wir lernen Sprache am besten, wenn jemand mit uns spricht – und zwar richtig spricht und sich Zeit dafür nimmt. 

Im Regierungsprogramm steht, dass der Kindergarten zur Bildungsinstitution werden soll. Ist dieser Bewusstseinswandel wichtig?


Mir gefällt in diesem Zusammenhag ein Spruch ganz besonders: "Alles, was ich wirklich wissen muss, lernte ich im Kindergarten."  Es geht um Lebensbildung. Schulbildung ist nur ein Teil davon. Es sind Dinge, die für das ganze Leben wichtig sind: Schlage niemanden, gib die Dinge dahin zurück, wo du sie gefunden hast, nimm nichts, was dir nicht gehört, drück die Spülung, wasch dir die Hände vor dem Essen. Wie wichtig das ist, sieht man bei folgender Geschichte: Stellen Sie sich vor, wenn ein erwachsener Mann vor einem Gemälde steht und alles mögliche darüber erzählen kann. Er weiß wer es gemalt hat, wann es entstanden ist und was es aussagen soll. Und während er erzählt, rinnt ihm plötzlich der Rotz runter. Dieser Mann ist nicht gebildet für uns. Der Begriff Bildung darf nicht auf die Wissensvermittlung beschränkt werden. 

Im Regierungsprogramm steht, dass der Übergang von Kindergarten und Volksschule reformiert werden soll. Haben die beiden Institutionen bislang zu wenig kooperiert?

Ja. Sie konnten es auch gar nicht. Die Schnittstelle zwischen Kindergärten und Volksschule soll abgeschafft werden. Das derzeitige System ist für die Kinder einfach schlecht.

Wie könnte so etwas aussehen?


Ein Vorbild könnte Frankreich sein. Die Volksschulpädagoginnen kommen schon vorher in den Kindergarten und die Elementarpädagogin geht nachher noch mit in die Volksschule. Die Institutionen überschneiden sich quasi.

Ein derartiger Vorschlag hat doch während der Koalitionsverhandlungen unter Kindergartenpädagoginnen für Unmut gesorgt.

Damals hat es geheißen, dass die Volksschullehrerinnen für zwei Stunden pro Woche in die Kindergärten geschickt werden, um den Kindern Deutsch zu lernen. Das lehnen wir ab. Es würde sich umgekehrt auch niemand von den Volksschulpädagoginnen dreinreden lassen. Wir wollen gemeinsam interaktiv gearbeitet. Es muss eine Art Gleichwertigkeit geben. Wir machen nicht dasselbe, aber alle etwas Wichtiges.

Die Kindergärten wollen schon lange in Bundeskompetenz. Wer stellt sich hier eigentlich genau quer?


Der Widerstand kommt von den Ländern und dem Gemeindebund. Da kommen ideologische Ansichten ins Spiel. In Österreich herrscht teilweise noch immer die Meinung vor, dass Mütter, die ihre kleinen Kinder in eine Einrichtung geben, Rabenmütter sind.

Ist diese Haltung nicht schon weitgehend zurückedrängt worden?

Nicht bei denen, die die Entscheidungen treffen.

Sie reden etwa von Helmut Mödlhammer, dem Präsident des Gemeindebunds.


Ja. Er sagt ja etwa, dass Kindergartenpädagoginnen keine akademische Ausbildung brauchen, sondern dass es reicht, ein gutes Herz und ein gutes Händchen zu haben.

Was würden Sie ihm ausrichten?

Ich hab ihm schon einiges ausgerichtet. Ich sage ihm aber gerne nochmal, dass diese Liebe, die er meint, Beziehungsqualität ist. Und die kann auch eine ausgebildete Pädagogin bieten. Das sind ja keine Roboter. Das gute Händchen heißt, dass ich eine gute Didaktik und Methodik habe, um die Kinder zu fördern.

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