„Früher war Lesen nicht gern gesehen“

Christine Noestlinger
Christine Noestlinger(c) ORF
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Christine Nöstlinger erzählt von einer Zeit, in der Eltern ihre Kinder schimpften, wenn sie Bücher lasen. Sie kritisiert die SMS-Kultur der Jugend: „Das ist ja überhaupt kein Deutsch mehr.“

Die Presse: Frau Nöstlinger, Sie schreiben seit Jahrzehnten Kinderbücher. Schreiben Sie diese jetzt anders als vor 20 Jahren?

ChristineNöstlinger: Natürlich. Erstens habe ich mich ja verändert. Es wäre sehr merkwürdig, wenn sich ein Mensch jahrzehntelang nicht verändern würde. Zweitens ist das Leben, das die Kinder heute führen, ein ganz anderes als noch vor 20, 30 oder 40 Jahren. Wenn man ein altes Kinderbuch von mir liest, dann schreibe ich nicht von CDs, sondern von Langspielplatten. Außerdem hat es kein Handy gegeben und auch kein Tablet.

Haben Sie all diese Neuerungen in den Büchern aufgenommen?

Ja. Aber nicht damit es adäquat für die jetzige Jugend ist, sondern weil diese Dinge für das Leben der Kinder heute wichtig sind. Wie soll ich heute ein zwölfjähriges Mädchen beschreiben, das kein Handy hat? Das wäre absurd.

Ist es Ihnen nie schwergefallen, up to date zu bleiben?

Wahrscheinlich weiß ich nicht alles, was die Jugend heute beschäftigt. Ich bin ein Beobachter meiner Umwelt – egal, ob es um Zehnjährige oder um 70-Jährige geht. Ich maße es mir nicht an zu sagen, ich weiß hundertprozentig Bescheid.

Hat sich das Leseverhalten generell verändert?

Ich kann als Autor über das Leseverhalten der Kinder nichts Spezielles sagen. Ich habe nur meine Vermutungen.

Mit Ihren Vermutungen scheinen Sie aber richtiggelegen zu sein. Sonst hätten Sie nicht so viele Bücher verkauft.

Na ja, das ist sehr schön. Aber ich kenne weder die Kinder, die meine Bücher nicht mögen, noch die Kinder, die sie lesen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass Kinder an und für sich höflich sind. Mir hat noch nie ein Kind gesagt: „Dieses Buch von Ihnen finde ich stinklangweilig.“ Obwohl es solche Kinder sicherlich geben wird.

Sie haben als Autorin aber wahrscheinlich schon eine Veränderung des Leseverhaltens bemerkt.

Es gibt Kinder, die genauso gern lesen – vielleicht sogar noch mehr –, wie es Kinder vor Jahrzehnten getan haben. Andererseits glaube ich, dass es insgesamt weniger Kinder gibt, die Bücher lesen. Es gibt mehr Ablenkung als damals. Zehnjährige haben heute einen Computer und einen Fernseher. Früher haben Kinder oft mit 13 oder 14 Jahren aufgehört zu lesen, dann sind andere Sachen spannender geworden. Als Erwachsene haben diese Leute nur noch den Sportteil in der „Kronen Zeitung“ gelesen.

Vieles wird heute nur noch in elektronischen Medien gelesen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Wenn man im Internet schnell etwas nachliest und sich informiert, dann ist das nicht mit dem Lesen von Literatur zu vergleichen. Da ich selbst gern lese, halte ich es für einen Verlust. Das Schöne am Lesen ist ja, dass der Leser im Kopf die Geschichte fertig machen kann. Wenn zwei Leute das gleiche Buch lesen, dann entsteht in jedem Kopf eine andere Geschichte. Wenn jemandem diese Art von Fantasie fehlt, die man braucht, dann hat er natürlich auch kein Vergnügen am Lesen.

Ist es eher Aufgabe der Schule oder der Eltern, die Kinder zum Lesen zu animieren?

Mein Gott! Vieles wäre Aufgabe des Elternhauses. Wenn es dort nicht passiert, dann müssen es eben andere übernehmen. Der PISA-Test hat gezeigt, dass viele Kinder die Technik des Lesens nicht beherrschen. Wer die nicht beherrscht, der wird sich nicht die Mühe machen und ein Buch lesen.

Was meinen Sie mit Technik?

Ich habe vor Kurzem einen Zwölfjährigen in der U-Bahn gesehen, der in seinem Schulbuch gelesen hat und dabei ein Blatt Papier unter die Zeile gehalten hat, um diese nicht zu verlieren. Außerdem hat er die Lippen beim Lesen mitbewegt. In dem Alter dürfte das nicht sein. Viele Kinder bräuchten eine bessere Lesetechnik, um überhaupt ein Buch lesen zu können.

Was wird da verabsäumt?

Ich bin kein Experte für Schulunterricht. Aber eine bessere Ausbildung würde sicher helfen. Wobei ich mir nicht im Klaren bin, wie viele Kinder in der Vergangenheit überhaupt wirklich perfekt lesen konnten. Es muss gar nicht sein, dass da etwas schlechter geworden ist. Man darf nicht vergessen, dass es nun zwei Generationen gab, die wollten, dass ihre Kinder viel lesen. Früher war das Lesen bei den Eltern gar nicht gut angeschrieben. Mein Vater, der 1911 auf die Welt gekommen ist, hat mir erzählt, dass die Mutter geschimpft hat, wenn er gelesen hat. „Da verdirbst du dir die Augen!“ und „Mach etwas Ordentliches!“ hat sie zu ihm gesagt.

Sind Sie Optimistin oder Pessimistin, wenn es um das künftige Leseverhalten von Kindern geht?

Wenn es weiter so voranschreitet, dann muss man wohl – wenn man ein Realist ist – pessimistisch sein.

Was genau ist so schlimm?

Schauen Sie sich die SMS an, die die jungen Leute verschicken. Das ist ja überhaupt kein Deutsch mehr. Aber ich kann die Eltern beruhigen, man kann auch groß, stark und gescheit werden, wenn man als Kind keine Bücher liest.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2014)

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