"Kinder sollten noch andere Köpfe als ihren eigenen kennen"

Kirsten Boie
Kirsten Boie(c) Jörg Schwalfenberg
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Kinderbuchautorin Kirsten Boie, auch als Erbin Astrid Lindgrens bezeichnet, spricht über die fehlende Notwendigkeit zu lesen, über das Schreiben und den "Möwenweg".

Die Presse: Frau Boie, Sie haben um die hundert Kinderbücher geschrieben. Stimmt es, dass Sie nur aus der Not heraus damit angefangen haben?

Kirsten Boie: Ja. Mein Mann und ich haben ein Kind adoptiert und das Jugendamt wollte nicht, dass ich weiter als Lehrerin arbeite. Ich war eine begeisterte Lehrerin, musste dem aber gehorchen, weil wir auch noch ein zweites Kind wollten. Als ich eines Tages meinen Sohn gefüttert habe, sind mir ganz spontan die ersten Sätze zu meinem ersten Buch eingefallen.

Die FAZ hat Ihnen beschieden, Sie hätten Astrid Lindgrens Erbe angetreten.

Ich bewundere Astrid Lindgren sehr. Ich glaube, sie hat für die Kinderliteratur viel mehr getan, als uns heute bewusst ist, weil sich die Kinderliteratur auf ihren Schultern auf eine Weise entwickelt hat, die uns selbstverständlich erscheint. Das Kompliment hat mich sehr gefreut, aber ich glaube, da müssen meine Füße noch ein wenig wachsen.

Sie schreiben seit fast dreißig Jahren. Wie hat sich das Leseverhalten der Kinder in dieser Zeit verändert?

Früher hatten Kinder nichts anderes als ihr eigenes Leben. Wenn sie dem entkommen wollten, mussten sie lesen, und das war eine unglaublich hohe Motivation. Heute wachsen Kinder mit einer enormen Anzahl an Medien auf und der Zugang dazu ist unendlich viel einfacher als das Lesen, denn dazu muss man erst eine sehr komplexe Kompetenz erwerben. Die Notwendigkeit, zum Vergnügen Lesen zu lernen, ist nicht mehr deutlich. Das ist das Riesenproblem, mit dem wir seit Jahrzehnten immer mehr zu kämpfen haben.

Es betrifft aber nicht alle Kinder gleichermaßen.

Einerseits gibt es viele Kinder in Brennpunkten, die in die Schule kommen, ohne jemals ein Buch in der Hand gehabt zu haben – denn heute gibt es ja nicht mal mehr ein Telefonbuch in jedem Haushalt. Diese Kinder sollen aber lesen lernen und begreifen, dass das Spaß macht. Andererseits gibt es immer mehr bildungsorientierte Eltern, denen bewusst ist, wie wichtig das Lesen als Schlüsselqualifikation ist und die ihre Kinder besonders früh an Bücher gewöhnen. Die Mitte fehlt uns ein bisschen.

Es geht beim Lesen vor allem um die Qualifikation?

Nein, das zweite Argument für Bücher ist, dass sie etwas Einzigartiges bieten: Lesen fördert die Empathiefähigkeit. Bücher sind das einzige Medium, in dem ich tatsächlich in die Gefühle und Gedanken anderer Personen einsteigen kann. Bei Filmen etwa sehe ich die Personen von außen und schlussfolgere, was sie denken. Aber im literarischen Text bin ich im Kopf des Protagonisten und denke und fühle mit ihm. Es macht doch einen Unterschied, ob Kinder noch andere Köpfe als ihren eigenen kennen. Das ist ja auch gesellschaftlich wünschenswert.

Zur Person

Kirsten Boie wurde am 1950 in Hamburg geboren, wo sie auch zur Schule ging und Deutsch und Englisch studierte. Nach ihrer Promotion unterrichtete sie an einem Hamburger Gymnasium, später an Gesamtschule.

1985 erschien ihr erstes Buch, das schon ein Erfolg war. Inzwischen sind von Kirsten Boie rund 100 Bücher erschienen. 2007 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet.

Große Erfolge waren u.a. „Wir Kinder aus dem Möwenweg“, „Schwarze Lügen“ oder „Ritter Trenk“, alle bei Oetinger schienen.
Wie kann man also Kindern dabei helfen, zu Lesern zu werden?

Es ist wichtig, dass das schon vor der Schule passiert. Wir müssen ein stärkeres Bewusstsein dafür schaffen, dass man Kinder nicht zu sehr anderen Medien aussetzen sollte, bevor sie Zugang zu Büchern haben. Aber natürlich bleibt eine Frage: Kann das bei Eltern, die selbst keinen Zugang zu Büchern haben, wirklich gelingen? Also müssen Kindergärten und Schulen sehr viel leisten. Ich würde mir wünschen, dass die Schulen mehr Zeit bekämen, um den Kindern die rein technische Lesefähigkeit zu vermitteln und dann noch mal viel Zeit, um ihnen viel vorzulesen.

Welche Rolle spielt der Spaß?

Der Spaß bedeutet, dass es Kindern gelingt, in die Geschichte einzusteigen. Wir sollten keine Scheu vor Texten haben, die Kinder ganz toll finden – und wir ganz grauenvoll. Als Erwachsener kann man das gar nicht beurteilen.

Muss man jetzt simplere Bücher schreiben als früher, wenn man Kinder erreichen will?

Nicht unbedingt. Es gibt eben auch Kinder, die schon ganz früh sprachlich schwierigere Texte verstehen können. Auf der anderen Seite gibt es Kinder, für die man im Grunde Drei-Wort-Sätze bräuchte. Deshalb finde ich es gut, dass wir heute einen so breiten Sektor an Erstlesetexten haben. Früher dachte ich, solche Bücher zu schreiben sei Betrug am Leser, aber das sehe ich jetzt nicht mehr so. Es gibt Bücher, die sich thematisch an den Interessen von Kindern orientieren und dann viel dazu beitragen können, dass diese Kinder sich an etwas anderes wagen. Früher war es wohl nicht nötig, so gestuft vorzugehen, weil die Motivation größer war. Aber inzwischen ist es wohl nötig.

Was zeichnet Ihrer Meinung nach sonst noch die aktuelle Kinderliteratur aus?

Ich glaube, dass es eine sehr starke Internationalisierung gibt. Im positiven Sinne hat man dabei eine Chance, das Beste aus allen Ländern zu bekommen. Wir haben im deutschsprachigen Raum einen großen Anteil an übersetzter Literatur, das finde ich wunderbar. Aber im negativen Sinne haben wir ein Problem damit, dass vor allem große, internationale, als Bestseller geplante Texte mit einem unendlichen Marketingaufwand bei uns erscheinen, sodass die einheimische Kinderliteratur darunter leidet.

Ist das denn ein Schaden für die Leser?

Kinder müssen doch auch ihre eigene Welt wiederfinden. Diese internationalen Bestseller, die jetzt den Markt erobern – mit Zahlen, von denen hierzulande niemand träumen kann – sind von Leuten geschrieben, die haargenau gelernt haben, auf eine Zielgruppe hin zu plotten. Deshalb haben diese Bücher oft eine phänomenale Spannung.

Sie Sind Literaturwissenschaftlerin und haben das theoretische Rüstzeug: Plotten Sie nicht?

Doch, in unterschiedlichem Maße. Ich habe psychologisch orientierte Bücher geschrieben, die kaum geplottet sind, etwa "Mit Kindern redet ja keiner". Hier geht es um eine Mutter, die einen Suizidversuch unternimmt. Bei diesem Buch wusste ich, wo ich ankommen will, kannte den Weg aber noch nicht. Vieles stellt sich ja erst beim Schreiben heraus. Bei Büchern wie „Der kleine Ritter Trenk“ oder „Seeräuber-Moses“ gibt es eine umfangreiche Handlung - natürlich plotte ich da, das würde anders gar nicht funktionieren.
Was mich beim Schreiben aber immer noch trägt, um das pathetisch zu formulieren, ist, dass im Rahmen dieser voraus geplanten Struktur mein Unterbewusstsein nach vorne drängeln darf. Das führt ganz häufig - oder eigentlich immer - dazu, dass das, was geplant ist, umgeworfen werden muss. Weil ich etwa weiß, diese Figur würde sich im realen Leben nie so verhalten, das ist nicht stimmig - auch, wenn es für die Handlung toll wäre.

Schreiben Sie immer für ein bestimmtes Alter?

Ich plotte mit dem Leser im Hinterkopf. Dabei habe ich kein Alter, aber einen Entwicklungsstand im Kopf. Ob das dann immer stimmt, kann ich ja nicht beurteilen.

Haben Sie auch ein Geschlecht im Kopf, für das Sie schreiben?

Das ist von Buch zu Buch unterschiedlich. Ich versuche, nicht zu einseitig zu schreiben. Nicht umsonst habe ich dem "kleinen Ritter Trenk" ein sehr wichtiges Mädchen zur Seite gestellt. Es ist meist dieses Mädchen, das die Probleme löst. Das war mir wichtig, um das Buch für Mädchen zu öffnen. Ist ist ja nicht so, dass immer nur Jungs Abenteuer erleben wollen. Mädchen wollen das auch. Bei "Seeräuber-Moses" haben wir dann das umgekehrte Prinzip.

Unterscheiden sich die Lesebedürfnisse von Mädchen und Buben?

Ich glaube schon, wenn auch nicht so gravierend, wie wir manchmal glauben. Kinder orientieren sich daran, was sie in der Gesellschaft als das für ihr Geschlecht Passende erleben, da hat auch die Familie relativ wenig Einfluss. Und kleinen Jungs sehen viel stärker, dass Männer grandiose Leistungen wie Bagger fahren erbringen. Das ist auch ein bisschen beängstigend, wenn man drei Jahre alt ist, aber man orientiert sich daran. Mädchen orientieren sich mehr an der Fürsorglichkeit, aber zum Glück nicht nur. Beim "Möwenweg" trägt der spielerische Konflikt zwischen Jungs und Mädchen ganz viel zur Freude der Leser bei, denn das spielt in ihrem realen auch eine Rolle. Aber ich achte sehr darauf, dass das Mädchen zwischendurch auch wieder mal sagt, dass es toll ist, Brüder zu haben.

Lesen den Möwenweg mehr Mädchen?

Ja, ich kriege mehr Rückmeldungen von Mädchen, in den letzten Jahren kamen aber immer mehr von Jungs. Es kommen auch immer mehr Jungs zu Lesungen und wünschen sich noch einen Band. Ich glaube, wir sehen bei Jungs eine Öffnung für solche Texte. Man weiß ja, dass Mädchen problemlos Texte mit Jungs als Protagonisten lesen, das aber nicht umgekehrt gilt. Beim Möwenweg scheint mir dieses Schema ein bisschen aufgebrochen - und das freut mich.

Und, wird es noch einen Band geben?

Ich habe immer gesagt, dass alles erzählt ist. Aber im letzten Sommer habe ich noch mal alle Bände am Stück gelesen, weil jetzt eine Zeichentrickserie entsteht. Und die Bücher haben mich so in Stimmung gebracht, dass ich entgegen meiner Absichten noch einen weiteren Band geschrieben habe. Der wird wohl nächstes Jahr erscheinen.

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