Wer Strafe nicht vollzieht, wird unglaubwürdig

Einsamer Junge
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Natürlich muss ein Kind gemaßregelt und notfalls bestraft werden, alles andere ist naiv. Man soll aber nichts androhen, was man realistischerweise nicht umsetzen kann oder will.

Anmerkung

Dieser kontroversielle Artikel in der „Presse am Sonntag“ zum Thema „Strafen in der Kindererziehung“ hat für Empörung gesorgt. Wir nehmen diese ernst.

Die Stellungnahme der Chefredaktion:

„Wer Strafe nicht vollzieht, wird unglaubwürdig“ von Wolfgang Greber („Presse am Sonntag“ 30. 11.), in dem Gewaltanwendung als „ultima ratio“ in der Kindererziehung bezeichnet wird, entspricht weder der Blattlinie dieser Zeitung noch zeitgemäßer Pädagogik. Daher – und das ist eine traurige Premiere – distanzieren wir uns vom Inhalt dieses Artikels. Unsere interne Kontrolle hat an diesem Samstag versagt. Wir bedauern dies.


Die Chefredaktion der „Presse“

Der Artikel ist aufgrund der Nachvollziehbarkeit der Diskussionen auf den verschiedenen Social Networks und anderen Plattformen vorerst online.

M.*, unser Bübchen, ist dreieinhalb Jahre alt. Er ist fröhlich und aufgeweckt, klettert, wandert und schwimmt gern und geht am liebsten Rehe füttern. Er spricht viel und gut, kann bis 25 zählen, lässt sich endlos vorlesen, erkennt Automarken, kann schon kurze Wörter lesen. Er sieht auf DVD englische Kinderserien wie „Fireman Sam“ und „Postman Pat“ (auf Englisch) und ist wirklich pflegeleicht.

Er wickelt einen ein und hat Charisma: Betritt er einen Raum, ist er nicht bloß da wie eine Tapete, sondern erscheint – wie ein Licht. Man merkt das auch an Reaktionen anderer: M. kann grantige Pensionisten, Punks und erschöpfte Hackler in der S-Bahn zum Lächeln bringen. Esoterisch Angehauchte nennen ihn „Kristallkind“: Das sind Kinder, die angeblich ob ihrer „kristallinen Seele“ irgendeine Energie emittieren, ausgeglichen, einnehmend, naturliebend, „wissend“ und mit Gefühl für Fairness ausgestattet sind. Ich halt von so Blabla ja wenig, aber irgendwie trifft's zu. Dann ist M. halt ein Aquamarin, schon der großen blauen Augen wegen.

Worte allein sind meist zu wenig. Dennoch: M. kann schlimm sein, zwider, aber nicht bösartig. Selten, aber doch. Er läuft Gefahr, sich zu gefährden, und weiß es nicht. Dann gilt es, realistisch zu sein statt ideologisch. Also: Natürlich muss ein Kind gemaßregelt und bisweilen bestraft werden. Seine Urteilsfähigkeit, Voraussicht und Kausalitätserkenntnis sind so begrenzt wie sein Weltverständnis. Nicht, dass Erwachsene superklug sind, aber sie wissen mehr, Punkt.Rationale Debatten mit Kindern sind oft sinnlos. Und mit guten Worten und etwas Gewalt erreicht man stets mehr als nur mit guten Worten.

Verbote und Strafen sind nämlich Gewalt im weiteren Sinn, da gegen den Willen des Kindes, auch, wenn es um unkörperliche Straf(-drohungen) geht, wie „...dann gibt es heute kein Eis!“, „dann gehen wir vom Spielplatz weg!“. Nun fällt meiner Frau, S., und mir oft auf, dass andere Eltern bei Strafdrohungen (1) voreilig und (2) unrealistisch, bei der Vollziehung aber (3) inkonsequent sind. Drohungen aber müssen (1) selten sein, denn Inflation frisst den Wert. Sie müssen auch (ad 3) konsequent, konsequent und konsequent noch mal umgesetzt werden: Wer Strafe nicht vollzieht, macht sich unglaubwürdig. Und man muss rasch handeln: Es gibt wenig Nervigeres als das endlose, zum Hysterischen anschwellende Einreden auf Kinder, etwa „Ich sag's dir zum hundertsten Mal, tu das nicht!“. Das wirkt nicht und verstört die Kinder, härtet sie vor weiteren Einredeschwällen ab und macht einen selbst zum Clown.

Die Konsequenz von (3) setzt aber den Realismus von Punkt (2) voraus: Drohe nie etwas an, das du realistischerweise nicht durchhalten kannst oder willst, etwa: „Eine ganze Woche lang nicht fernsehen“,„Heuer nicht ans Meer fahren“, „Zu Weihnachten kommt kein Christkind“. Es ist verstörend, wie oft man so dumme Drohungen hört.

„1, 2, 3.“ Wir verhängen Strafen erst nach einigen Andeutungen, denen Anzählen folgt: „1, 2, 3.“ Wird bei drei nicht gefolgt, kommt die Strafe garantiert, ohne Debatte und Mäßigung. Das weiß M., und es funktioniert sehr gut: Fast immer lenkt er bei zwei ein. Man soll aber nur selten anzählen, mehrmals am Tag ist despotisch. Man soll dem Kind nicht den Willen abschnüren und es gelegentlich an die Wand rennen lassen: Man lernt auch durch Schaden und Schmerz. Umgekehrt gibt es, wenn der bestrafte M. lieb ist, oft eine „Karotte“: Wir bieten statt des Verbotenen eine Alternative an: etwa auf den Spielplatz gehen, vorlesen. Das wirkt Wunder.

Wie ist es mit körperlicher Gewalt? Nun, ein Kind grenzt für mich an Heiligkeit, ich kann seinen Wert ermessen, wohl besser als viele andere Eltern: Immerhin haben wir eine Tochter, auf dem Friedhof schlafen legen müssen, sie starb kurz vor der Geburt, und ich hielt ihr federleichtes Körperchen im Arm. Dennoch: Totale Gewaltfreiheit in der Erziehung ist ein infantil-romantischer, militant-pazifistischer Irrglaube wie die Idee der Gewaltfreiheit in der Welt, da ändert auch das gesetzliche Gewaltverbot nichts. Ich habe manch gewaltfrei erzogenes Kind erlebt, sie neigen zu Rücksichtslosigkeit und verbreiten oft negative Schwingungen.

Eine Körperstrafe muss aber, wenn überhaupt, in so seltenen wie homöopathischen Dosen sein, als Ultima Ratio und an Stellen, die nicht zu persönlich sind, so wie das Gesicht, weshalb ich die „gesunde Watsche“ ablehne, ja! Okay ist Übers-Knie-Legen, das ich aber demonstrativ-inszeniert und nur mit leichtem Klopfen durchführe; es geht darum, das Kind in eine „blöde“ Lage zu bringen, die nicht wehtut. Und meist müssen wir beide dann lachen.

Ich stehe zum Ohrenzieher. Wozu ich wirklich stehe, ist der Ohrenzieher als strengste Sanktion: Da wird M. nach „1, 2, 3“ am Ohr gezogen. Nicht fest, aber doch. Nun, nachdem seine Trotzphase, die moderat war, vorbei ist, ist das fast nimmer nötig. Die (seltene) Androhung wirkt heute noch immer.

Übrigens: Einen Rückfall jüngerer Eltern in die doofe 70er-Mode der antiautoritären Erziehung fürchte ich wenig. Heute ist's Common Sense, dass die Absenz von Autorität menschenunwürdig ist. Zudem sind viele Eltern zwischen 20 und Mitte 30 eher von der politisch korrekten Sorte, der ein Netz aus Verboten, Geboten und Tabus („Das kann man so nicht sagen“, „Darf man dies oder das tun?“) sowieso immanent ist. Sie sind im Vergleich zu uns Jugendlichen der 1980er, als es hieß „Alles geht!“, ja illiberal. Viele junge Eltern sind formal strenger als S. und ich, aber inkonsequent und unrealistisch, geht es ums Strafen.

Wie gesagt, M. ist ein Kristallkind. Also wir denken, dass wir das alles schon halbwegs richtig machen.

*Name des Kindes und der Ehefrau von der Redaktion gekürzt.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2014)

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