Gewalt: „Ganze Familie anschauen“

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Experten wollen beim Thema familiäre Gewalt weg von einem Täter/Opfer-Denken und Gewalt mit systemischen, familientherapeutischen Mitteln entgegenwirken.

Wien. „Gewalt ist für mich allgegenwärtig“, berichtet Kinder- und Jugendpsychiater Bernhard Kluger aus seiner täglichen Praxis. In acht Prozent der österreichischen Familien herrsche eine „Gewaltkultur“, heißt es bei der Präsentation des eben erschienenen Handbuchs „Familiäre Gewalt im Fokus“.

Das 740-Seiten-Werk von 53 US-Autoren ist nun auf Deutsch erschienen. Es soll helfen, Prozesse zu verstehen, die zu Gewalt in Familien und Beziehungen führen und neue Behandlungsmodelle zu etablieren. Dabei geht es vor allem um einen systemischen, familientherapeutischen Ansatz bei Hilfsangeboten für betroffene Familien. „Wir müssen weg vom Täter/Opfer-Denken“, sagt Soziologe Gerhard Amendt, der Herausgeber der deutschen Version des Buchs. Täter „umerziehen“ zu wollen bringe wenig, wenn es darum gehe, zu verhindern, dass sich Gewalt wiederholt, meint Amendt.

Täter zur Therapie ermutigen

Zu wissen, wie Gewalt in einer Familie oder einer Partnerschaft entsteht, und sich die gesamte (Groß-)Familie, die Beziehungen oder externe Einflüsse, die Gewalttätigkeit fördern – Stress, Arbeitslosigkeit, soziale Isolation –, anzuschauen, sei effektiver, wenn es darum geht, Gewalt in einer Familie einzudämmen. Gewalt komme schließlich nie aus heiterem Himmel, bloß sieht man den Weg dahin nicht.

Das Buch soll helfen, diesen Weg sichtbar zu machen – und Menschen, die selbst Gewalt erfahren haben, die selbst Gewalttäter sind oder ihren Partner beim Schlagen der Kinder gewähren lassen, zu ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Dabei muss nach seinen Angaben zwischen leichter und schwerer Gewalt unterschieden werden. Bei schweren Fällen, dem klassischen Prügeln, das etwa zehn Prozent der Fälle familiärer Gewalt ausmache, lägen so die Autoren, eine schwerwiegende psychische Störung vor, die in Richtung einer Borderline-Störung gingen, Vorstufen psychotischer Schübe seien oder die an Soziopathie grenzten. Aber auch in solchen Fällen kann Familientherapie erfolgreich sein.

80 Prozent der Fälle von Gewalt in der Familie seien aber als „leichte“ Gewalt einzuordnen, die hin und wieder vorkommt, wie der Klaps auf den Hinterkopf oder das Hinterteil. Aber, so warnt Psychiater Kluger, auch diese 80 Prozent seien nicht zu unterschätzen. „Kinder nehmen das mit“, sagt er. Häufige Reaktionen seien Depressionen, Aggression oder Angsterkrankungen. Genauso wie bei Kindern, die Gewalt zwischen ihren Eltern erleben. Einer Studie zufolge, die im Buch zitiert wird, weisen sechs von zehn Kindern, die Gewalt zwischen Ehepartnern miterleben, eine verlangsamte Entwicklung auf. Zu den Symptomen zählen auch ein geringeres Selbstwertgefühl, Symptome von Beklemmung und Trauma, Aggression, schlechte schulische Leistungen oder gestörtes Beziehungsverhalten.

Drohen als „prägendes Grauen“

Eine Gewalterfahrung schürt außerdem die Gefahr, dass Opfer selbst ihren Kindern gegenüber Gewalt anwenden. Um ein „Vererben“ der Gewalttätigkeit zu verhindern, sei es essenziell, dass Menschen eine Sprache für ihr Erlebtes und Verständnis dafür finden. „Eltern, die selbst geschlagen wurden, darüber aber nicht reden können, sagen sich: Ich werde meine eigenen Kinder nie, nie, nie schlagen. Dadurch wird der Druck so hoch, dass erst recht sie es sind, die ihre Kinder später schlagen“, sagt Amendt.

Oder, die in einer anderen Form gewalttätig werden. Verzichten Eltern – durch sozialen Druck oder die eigene Einsicht – auf physische Gewalt, greifen aber zu „Erziehungsmitteln“, die sich als psychische Gewalt einordnen lassen, bringe das nichts.

Wird ein Kind etwa tagelang angeschwiegen, in die Isolation geschickt oder bloßgestellt, oder werden Kinder bedroht – Amendt erzählt etwa vom Fall einer Mutter, die ihren Kindern bei Fehlverhalten mit ihrem Selbstmord drohte und für Stunden verschwand –, sei das ein ebenso „prägendes Grauen“ für Kinder. „Eltern müssen eine Modalität finden, mit Konflikten umzugehen und ihre Gefühle auszudrücken“, heißt es. Und das sei – allen Gesetzen, die Gewalt verbieten, zum Trotz – noch immer ein Manko in vielen Familien: „30Prozent der Kinder unter drei Jahren werden von ihren Eltern mit leichten Klapsen ,versorgt‘, weil die Eltern sie anders nicht in den Griff kriegen“, so Amendt.

Gewalt „nicht weniger“

Kluger glaubt nicht, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Gewalt in Österreich abgenommen habe. „Es hat höchstens die Bekenntnis dazu abgenommen.“ Das Handbuch soll nun zumindest helfen, dass Familien Hilfe bekommen und sich die Wiederholung von Gewalt eindämmen lässt. (cim)

AUF EINEN BLICK

Gewalt in der Familie ist ein nach wie vor unterschätztes Problem: In acht Prozent der Familien Österreichs kommt es gelegentlich zu Gewalttätigkeit, so Soziologe Gerhard Amendt. Auch, wenn 80 Prozent davon als „leichte“ Gewalt eingestuft werden, sind die Folgen für Kinder nicht zu unterschätzen. Das neue Handbuch „Familiäre Gewalt im Fokus“ soll helfen, die Ursachen und Strukturen hinter Gewalt zu verstehen. Die Autoren fordern einen systemischen/familientherapeutischen Ansatz, damit sich Gewalthandlungen nicht wiederholen, statt Täter „umzuerziehen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2014)

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