Weihnachten 1914: Die Angst vor dem Hunger

Christmas truce
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In Wien wird die Versorgungslage immer prekärer. Ungarn beliefert die Stadt nicht mehr. Die Angst geht um.

In unserer Erzählung über den Ersten Weltkrieg halten wir zu Weihnachten 1914 an. Wie sah das Leben der Zivilbevölkerung in diesem ersten Kriegswinter aus?

Manfried Rauchensteiner beschreibt in seinem Standardwerk („Der Erste Weltkrieg“, Böhlau, 2013) die triste Versorgungssituation in Österreich. Schon im August hatte der Innenminister, Baron Heinold, vor einer industriellen Krise gewarnt, wenn die Kohle wegen der Soldatentransporte nicht mehr zu den Menschen gelangen würde. 180.000 Arbeitslose prophezeite er. Jetzt war die Krise da.

Denn das Getreide, das im Sommer noch abgeerntet werden konnte, kam nicht mehr bis in die Mühlen. In Triest lagerten zudem 5000 Waggons mit Reis, die den Jahresbedarf der Monarchie darstellten. Sie konnten aber nicht fortgebracht werden.

Die Regierung musste versuchen, Hamsterkäufe gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das konnte nur funktionieren, wenn die Importe weitergingen und Ungarn weiterhin alles lieferte, was die österreichische Reichshälfte an Nahrungsmitteln benötigte.

Damit war aber schon im Oktober 1914 Schluss. Die Ungarn redeten sich auf eine schlechte Ernte aus; in Galizien ging ein Teil der Ernte verloren, weil mittlerweile schon Krieg war. Die Heeresverwaltung kaufte auf, was zu bekommen war, und die zwei Millionen Soldaten aßen den Zivilisten buchstäblich das Brot weg.

Im Dezember war halbwegs gutes Mehl in Wien nicht mehr erhältlich. So forderte die Sozialdemokratie Höchstpreise und strenge Rationierung. Die Folge: Mehl war nur mehr auf dem Schwarzmarkt zu bekommen.

Und so spaltete die Ernährungskrise bald die beiden Reichshälften. Denn die Ungarn erließen Grenzsperren. Bis zur Einführung von Brot- und Mehlkarten war es dann nur noch ein kleiner Schritt.

Jetzt musste rasch gehandelt werden, wollte man Hungerrevolten verhindern. Einen Reichstag, der diesbezügliche Gesetze schaffen konnte, gab es nicht. So kam es am 10.Oktober zur Ermächtigunsverordnung, die ursprünglich sogar eine Arbeitsdienstverpflichtung umfasste. Sie galt bis 1917, als sie abgelöst wurde durch das berühmte „kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“, das unbemerkt den Krieg überlebte. Erst Engelbert Dollfuß erinnerte sich dessen 1934. Und er nützte es für seine Zwecke.

Dem Brotgetreide mussten nun billigere Gerste, Mais oder Dinkel beigemischt werden. Und nun rächte es sich, dass bei Kriegsbeginn zu viele qualifizierte Arbeiter eingezogen worden waren. „Die Zahl der Arbeiter in der Metallindustrie schrumpfte gebietsweise um mehr als ein Drittel“, berichtet Rauchensteiner. Die Alpine Montan-Gesellschaft vermisste 18 Prozent ihrer Arbeitskräfte, in Wien sperrten wegen kriegsbedingter Engpässe 566 kleinere Betriebe zu. Nun hätte man die frei gewordenen Arbeitslosen ins Heer transferieren können, um wichtige Facharbeiter von der Front zurückzurufen. Das geschah aber nicht. Und die Arbeitsbelastung wuchs ins Unermessliche. Bei Škoda sollen auf dem Höhepunkt des Kriegs Arbeiter auf bis zu 110 Wochenstunden gekommen sein, was rund 16 Stunden Arbeit an sieben Tagen der Woche bedeutete. 80Stunden zu arbeiten war durchaus nichts Außergewöhnliches mehr. Diese „Heeresarbeiter“ bekamen natürlich auch nur noch einen Soldatensold. Ausnahmen von der generellen Verfügung zur zwangsweisen Arbeitsverpflichtung gab es für geistig oder körperlich Behinderte, Beamte, Geistliche und Bauern sowie Geschäftsinhaber ohne Angestellte.

Und wo keine Männer mehr verfügbar waren, dort mussten die Frauen einspringen: in der Landwirtschaft, in der Industrie, bei den Dienstleistungen. Um der materiellen Not zu begegnen, verrichteten Millionen Frauen Arbeiten, die sie oft nicht gewohnt waren, das allerdings zu niedrigeren Löhnen als Männer. So waren sie bald dreifach belastet: durch die Arbeit daheim oder in der Fabrik, durch die Kindererziehung – und durch das „Anstellen“ vor den Geschäften. Immer länger wurden die Warteschlangen, immer häufiger musste man unverrichteter Dinge wieder heimgehen.

Es kam, berichtet der Historiker mit seinem wachen Blick, zu sonderbaren soziologischen Konflikten. Oft waren es ja Kriegerwitwen, die mit Nähen und Stricken Geld verdienen wollten. Sie verübelten den adeligen und großbürgerlichen Damen deren unentgeltliche karitative Tätigkeit, weil sie Konkurrenz witterten. Und der Krieg sollte noch lang dauern. Sehr lang.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2014)

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