Das Ende der Schreierei

Mutter und Tochter
Mutter und Tochter(c) Michaela Bruckberger
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Sheila McCraith beschreibt in ihrem Buch "Yell less, love more" ihren langen Weg von einer brüllenden zu einer ruhigen Mutter.

Es war einer dieser Tage, die wirklich nicht so anfingen, als könnten sie zu irgendetwas gut sein: Am 20. Januar 2012 hatte Sheila McCraith es gerade geschafft, ihre vier Söhne im Alter zwischen fünf Jahren und sechs Monaten in einem Zimmer zu versammeln – in der Hoffnung, dass die drei größeren das Baby nicht aufwecken würden und sie selbst ein paar Minuten Ruhe zum Milchabpumpen finden würde. Der Moment, in dem sie die Nerven verlor, war der, als die drei Großen anfingen, die Ersatzteile ihrer Milchpumpe durchs Zimmer zu werfen und darüber so engagiert in Streit gerieten, dass eine lautstarke Verfolgungsjagd in ebensolchen Kampfhandlungen endete – und weder an das Beenden des Milchabpumpens noch an ein schlafendes Baby zu denken war.

Sheila McCraith begann zu brüllen. Nicht kurz und scharf, sondern „mit knallrotem Kopf, am ganzen Körper zitternd und in vollem Schreimodus“, wie die überforderte Mutter es in ihrem Buch „Yell less, love more“ – „Schreie weniger, liebe mehr“ – beschreibt. „Sofort aufhören! Mami braucht eine Minute, um ihre Fassung wiederzufinden. Bitte. Gebt. Mir. Eine. Stinkende. Minute“, brach es mit kreischender Stimme aus der damals 34-Jährigen heraus. Bei vier Söhnen in dem Alter war es nicht das erste Mal, dass McCraith die Beherrschung verlor, an diesem Tag gab es aber einen Zeugen: Ein Handwerker, dessen Anwesenheit im Haus ihr nicht bewusst war, klopfte vorsichtig an die Zimmertür und fragte, ob alles in Ordnung sei.

Und das war es nicht: Die Vorstellung, dass jemand Zeuge ihres Ausbruchs geworden war, ließ die vierfache Mutter vor Scham im Boden versinken. Die nicht geringer wurde, je mehr sie darüber nachdachte, warum sie vor Fremden nicht als schreiende Mutter dastehen wollte, ihren vier Söhnen diesen Anblick aber fast täglich zumutete. „Es war für mich wie ein Erweckungserlebnis, als mir klar wurde, dass ich zwar genügend Selbstkontrolle hatte, um mich für Fremde – Nachbarn, Kollegen oder eben Handwerker – zusammenzureißen, aber offenbar nicht für meine Kinder“, erzählt McCraith im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.

520 Tage ohne Schreien. Eine Einsicht, die zu einem Entschluss führte, den die beschämte Mutter am nächsten Morgen ihrer Familie mitteilte: „Mami wird ab sofort ein ganzes Jahr nicht schreien“, lautete die Botschaft, die zunächst mit Skepsis aufgenommen wurde. Aber McCraith meinte es ernst, legte strenge Regeln fest – das Zurücksetzen des Zählers auf null, sollte sie doch die Beherrschung verlieren, war eine davon – und schaffte es schließlich, 520 Tage lang nicht die Stimme zu erheben.

Eine Erfahrung, die sie in ihrem Buch zusammengefasst hat, das im November erschienen ist, derzeit auf den Bestsellerlisten der US-Erziehungsratgeber zu finden ist – und bereits an jener der „New York Time“ kratzt.

Denn mit diesem schambesetzten Thema hat die Amerikanerin offenbar einen Nerv getroffen: „Das Erste, was mir fast alle sagen, die mein Buch gelesen haben haben, ist: ,Ich war so froh zu sehen, dass ich damit nicht allein bin‘“, erzählt die Autorin, auf deren Homepage sich inzwischen auch eine Community von über 2000 Frauen gebildet hat, die sich über das Schreien mit Kindern austauscht und sich mithilfe des Buches auf den Weg gemacht hat, leisere Mütter zu werden.

Und das mit recht guten Chancen auf Erfolg, denn auf den 198 Seiten liefert McCraith kein Pamphlet theoretischer Natur, sondern beschreibt ehrlich und reflektiert ihren Weg samt allen Rückfällen, Scham und peinlichen Selbsterkenntnissen.

Im Wissen, dass Mütter, die vor Überforderung schreien, meist nicht diejenigen sind, die Zeit haben, ein Buch zu lesen, hat sie es in 30-Tages-Schritte unterteilt, die jeweils noch eine Zusammenfassung mit konkreten Hilfen am Anfang jedes Kapitels bieten. Untergliedert sind sie in Tipps für die Zustände „kalt“, „warm“ und „heiß“: Sie reichen vom Blick ins Familienalbum, solange man noch entspannt ist, über das langsame Trinken eines Glases Wasser, wenn sich die Stimmung aufheizt, bis dazu, die Kinder zum gemeinsamen Schreikonzert in den Garten einladen, um die Spannung in der heißen Phase abzubauen.

Detailliert beschreibt die Autorin auch, wie sie in einem langen Prozess gelernt hat, ihre ganz persönlichen Schrei-Trigger zu erkennen und entsprechend damit umzugehen. Ehrlicher zu sich selbst zu werden und Unzufriedenheiten mit dem eigenen Leben zu benennen, waren andere Hilfen. Die Werkzeuge, die McCraith ihren Lesern mit auf den Weg gibt, sind eine Kombination aus körperlichem Spannungsabbau – von spontanen Liegestützen bis zum kurzen Trommelkonzert auf der Tischplatte, zu dem auch die Kinder eingeladen werden –, mentalen Tricks, die helfen, die Herausforderung nicht zu vergessen, bis zur eingehenden Selbstbeobachtung und den nicht immer schmeichelhaften Erkenntnissen, die damit einhergehen.

Wichtiges Symbol. Wichtig in McCraiths Konzept war außerdem das Schaffen eines Symbols für den ganzen Prozess. Sie wählte dafür ein oranges Rhinozeros: Weil das Nashorn eines der entspanntesten Tiere ist, ehe es gereizt und zu einem der aggressivsten wird. Und die Vorstellung, sich von dem grauen, gereizten Nashorn in ein warmes, freundliches, oranges Rhino zu verwandeln, für sie gut passte. Orange Symbole im ganzen Haus, Blumen in der Vase oder oranger Nagellack an den ganz schwierigen Tagen halfen der Mutter, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Und ihre Söhne, die orange Rhinos in allen Größen ausgeschnitten, bemalt und aufgeklebt hatten, taten ein Übriges, wenn sie ihre Rhinos hochhielten, um daran zu erinnern, dass sie alle miteinander in einer schreifreien Zone leben.

Nach und nach lernte die Marketingexpertin, die Auslöser für ihr Schreien immer früher unter Kontrolle zu bringen. Und das Leben nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für sich selbst besser zu machen. „Ich bin um so vieles glücklicher, seit ich nicht mehr schreie“, erzählt sie. „Und selbst wenn ich heute einmal laut werde, ist das okay. Denn es geht um Fortschritt und nicht um Perfektion, und darum, am Ende des Tages mehr liebevolle als laute Momente erlebt zu haben.“

»Yell less, love more«

How the Orange Rhino Mom Stopped Yelling at Her Kids – and How You Can Too!

Sheila McCraith,
Fair Winds Verlag, englisches Taschenbuch, 198 Seiten, 11,50 Euro

www.theorangerhino.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2015)

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