Kindergartenpflicht: 612 Strafverfahren in Wien

(c) Clemens Fabry
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Im Herbst 2010 wurde der Pflichtkindergarten für Fünfjährige eingeführt und als „Meilenstein“ gepriesen. Ist er aber nicht. In Wien besucht nur jedes siebenundzwanzigste Kind, das erreicht werden sollte, tatsächlich den Kindergarten.

Wien. Gegen mangelnde Deutschkenntnisse bei Schuleintritt gibt es in der Politik ein Patentrezept. Es heißt Kindergarten. Oder besser: Pflichtkindergarten. Diesen sollten, wenn es nach der SPÖ geht, nicht nur alle Fünf-, sondern auch bereits alle Vierjährigen besuchen müssen. Auch die ÖVP würde die Kindergartenpflicht gern ausdehnen. Mit dem Unterschied, dass die Volkspartei nur die Vierjährigen verpflichtend in den Kindergarten schicken will, „die es brauchen“ – wie es in der Parteidiktion heißt. Die Politik denkt also bereits an ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr. Wie gut aber funktioniert eigentlich das erste?

Den gewünschten Effekt hat die Einführung des verpflichtenden Kindergartenjahres im Herbst 2010 nicht überall gebracht – auch, wenn das die Statistik auf den ersten Blick vermuten lässt. Zunächst stechen nämlich die hohen Betreuungsquoten ins Auge (siehe Grafik). Schon vor der Einführung des verpflichtenden Kindergartenjahrs besuchten 96,1 Prozent der Fünfjährigen (die vorzeitig eingeschulten Fünfjährigen sind dabei berücksichtigt) den Kindergarten. Im vergangenen Kindergartenjahr waren es 97,2 Prozent. Eine (kleine) Steigerung.

Bedenkt man aber, dass durch die Verpflichtung genau jene 3,9 Prozent des Jahrgangs erreicht werden sollten, die den Kindergarten nicht (freiwillig) besuchten, ist die Steigerung wenig zufriedenstellend. Das bedeutet nämlich, dass man lediglich ein starkes Viertel der Kinder, die man zusätzlich in den Kindergarten bringen wollte, tatsächlich erreicht hat. Die politisch Verantwortlichen dürften sich einen größeren Erfolg erhofft haben, als sie im Jahr 2010 von einem „wichtigen Meilenstein, damit alle Kinder – unabhängig von ihrer sozioökonomischen Herkunft – die gleichen Startchancen bekommen“, gesprochen haben.

Besonders viele Kinder entkommen laut Statistik in Wien der Kindergartenpflicht. Dabei wäre in der Bundeshauptstadt, wo für mehr als die Hälfte der Volksschulkinder Deutsch nicht die Muttersprache ist, ein Kindergartenbesuch auch aus integrationspolitischer Sicht besonders wichtig. Die Betreuungsquote lag hier aber schon immer deutlich unter dem Österreich-Schnitt. Vor der Einführung des Pflichtkindergartens besuchten 91,8 Prozent der Wiener Fünfjährigen den Kindergarten. Nun sind es 92,1 Prozent. Von den 8,2 Prozent des Jahrgangs, derentwegen die Verpflichtung eingeführt wurde, konnte man also nur einen winzigen Bruchteil erreichen. In Zahlen gegossen heißt das, dass nur etwa jedes siebenundzwanzigste Kind, das erreicht werden sollte, nun tatsächlich den Kindergarten besucht. Für die übrigen 26 änderte sich durch die Verpflichtung nichts.

Eine genaue Angabe darüber, wie viele Fünfjährige den Kindergarten nicht besuchen, gibt es nicht. Doch rechnet man die Betreuungsquote auf die Zahl der Fünfjährigen hoch, so zeigt sich, dass im Herbst 2013 in den acht Bundesländern außer Wien 882 Fünfjährige trotz Pflicht keinen Kindergarten besuchten. Allein in Wien waren es 1357.

186 Ausnahmen bewilligt

Wie kann das überhaupt sein? Die Frage ist nicht allzu einfach zu beantworten. Auch bei einer Verpflichtung gibt es Ausnahmen. Befreiungen können wegen einer Behinderung, aus medizinischen Gründen, aufgrund eines besonderen pädagogischen Förderbedarfs oder aufgrund der Entfernung bzw. schwieriger Wegverhältnisse zwischen Wohnort und nächstgelegener Betreuungseinrichtung bewilligt werden. Außerdem kann auch eine Betreuung im Rahmen der häuslichen Erziehung beantragt werden.

In Wien wurden im Kindergartenjahr 2013/14 laut Zahlen des Magistrats 186 Ausnahmebewilligungen erteilt. Damit allein lässt sich die hohe Zahl der Ferngebliebenen nicht erklären. Wien leitete jedenfalls 612 Strafverfahren ein. Wobei nur ein ganz geringer Teil Strafe zahlen musste. Denn die meisten Eltern würden ihr Kind nach Androhung einer Strafe in den Kindergarten schicken, heißt es aus dem Magistrat. Deshalb sei man mit dem Stichtag (1. September), an dem die Statistik Austria die Betreuungsquoten bemisst, unglücklich. An einem späteren Stichtag würden die Zahlen anders aussehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2015)

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