Alte Kinderspiele: Spielen ohne Spielzeug

Tempelhüpfen
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Manche sind schon fast vergessen, aber alte Kinderspiele von Blinde Kuh bis Pfitschigogerln sind Trainingseinheiten für Gehirn, Koordination und Motorik.

Eine leichte Berührung, ein kleines Zwicken, dann wieder nichts. Die blinde Kuh in der Mitte lauscht, sie erahnt, wo die Mitspieler sich befinden – und greift zu. Sie ist nicht das Opfer eines Spiels, sie hat es im Griff. „Die Augen zugebunden / Hast du mich schnell gefunden / Und warum fingst du eben mich? / Du faßtest mich aufs beste / Und hieltest mich so feste / Ich sank in deinen Schoß“. So beschrieb einst Johann Wolfgang von Goethe das Spiel in einem Gedicht. Allein, das gute Ende blieb aus – denn Goethe wird verschmäht: „Kaum warst du aufgebunden / War alle Lust verschwunden / Du ließest kalt den Blinden los.“

Es war nicht nur ein einfaches Kinderspiel – durch Goethes Schilderung wird der erotische Hintergrund spürbar –, auch wenn er erfolglos blieb und seine Angebetete sich lieber einen anderen gefangen hätte. Das Spiel mit all seinen flüchtigen Berührungen war die ideale Möglichkeit, zu flirten und miteinander auf Tuchfühlung zu gehen. Deshalb war es auch im Mittelalter verboten. Es schien nicht sittlich genug. Dem Erfolg des Spiels tat dies keinen Abbruch, es blieb beliebt, entwickelte sich aber später zurück zum Kinderspiel. Doch auch Kinder können einiges dabei lernen, sie schärfen ihre Sinne, kontrollieren ihre Bewegungen. Es gibt einen Grund, warum sich dieses wie auch andere Kinderspiele über die Jahrhunderte erhalten haben: Hinter so manchem steckt viel mehr als nur ein Zeitvertreib.


Aus dem Repertoire verschwunden. Blinde Kuh ist eines der bekanntesten alten Kinderspiele, doch wer heute Kinder danach fragt, wird nur selten eine Spielanleitung bekommen. Es wird kaum mehr gespielt. Damit ist die Blinde Kuh nicht allein. Das Tempelhüpfen scheitert in den meisten Fällen schon daran, dass kaum ein Kind weiß, wie der Spielplan richtig auf den Boden zu malen ist. Spiele wie Sautreiben (eine Urform von Landhockey, das mit einer Dose gespielt wird und früher sehr beliebt war) sind völlig aus dem Repertoire der Kinder verschwunden.

„Es ist ein großer Verlust, wenn Spiele verloren gehen, denn damit verringern sich automatisch die Fertigkeiten, die Kinder im Spielen erwerben“, schreibt die Historikerin Inge Friedl in ihrem neusten Buch. Aus ebendiesem Grund – und weil solche Spiele den Kindern nach wie vor großen Spaß machen – hat Friedl Anleitungen zu Spielen gesammelt, die schon fast in Vergessenheit geraten sind. Dies passiert schnell, sobald eine Generation von Kindern aufhört, die Spiele zu spielen. Früher lernten jüngere Kinder die Regeln von den älteren, nun finden sich immer seltener Gruppen von Kindern unterschiedlichen Alters. Sie spielen häufiger mit Schulfreunden, ihre Freizeit ist auch stärker verplant. So ist die Wissenskette schnell unterbrochen.

Dabei haben die Klassiker einige Vorteile. Etwa: Man braucht dafür kein Spielzeug. Das fördert nicht nur den Dialog unter den Kindern, sondern auch ihre Kreativität. Deshalb setzen auch aktuell immer mehr Kindergärten oder Horte auf weniger statt mehr. Sie führen immer öfter spielzeugfreie Wochen oder Monate ein. Die alten Kinderspiele könnten so doch wieder ein wenig an Boden gewinnen. Ein weiterer Vorteil: Die unterschiedlichsten Fertigkeiten werden trainiert. Das Springen beim Tempelhüpfen, Schnurspringen oder Bockspringen. Die Feinmotorik beim Pfitschigogerln, Steine aufplatteln oder diversen Murmelspielen. Die Koordination bei Blinde Kuh oder beim Zehnerln und das – hier sogar physische – Zusammenhalten beim Spiel Der Kaiser schickt Soldaten aus.

Beim Versteinern will die eine Hälfte des Körpers weg vom Fänger, die andere hin zu den Freunden, die es zu befreien gilt. Wie viele Schritte traut man sich zu machen? Beim Spiel lernt man viel über andere – und sich selbst. Wobei: Das Spiel in einer größeren Gruppe ist nicht nur lustig. Kleinere oder Schwächere werden zwar gebraucht, weil viele der Spiele nicht funktionieren, wenn nur eine Handvoll Kinder mitmacht. Ernst genommen werden sie aber kaum. Und eine Chance darauf, das Spiel zu gewinnen, haben sie meist auch nicht. Der Gerechtigkeit wird eben durch das Befolgen der Regeln schon Genüge getan.


Henne statt Kuh. Aber auch wenn es sicher nicht immer idyllisch zugeht: Die Erfahrungen, die Kinder im Spiel machen, sind wichtig. Das Bedürfnis nach den Spielen ist da. Weshalb einige Kinderspiele quasi universal sind und in anderen Ländern in ganz ähnlicher Form gespielt werden. Die Spiele Himmel und Hölle oder Tempelhüpfen gibt es sowohl in vielen europäischen Ländern als auch in Kuba, Burma, den USA oder Afrika. Die Spielpläne in Burma und den Vereinigten Staaten gleichen sich sogar. Blinde Kuh ist zwar in dieser Form, aber mit anderen Tieren als der Kuh im Mittelpunkt bekannt. In anderen europäischen Ländern ist es der Fuchs oder auch die Henne, die blind nach anderen greifen. Die Enttäuschung, die Goethe erlitt, als die Blinde aufgebunden und in ihrem Gesicht alle Lust verschwunden war, kannten wohl auch viele andere. Den Spaß, darf man annehmen, aber auch.

BUCHTIPP

„Alte Kinderspiele – einst und jetzt“ von Inge Friedl. 2015 im Böhlau Verlag erschienen, 235 Seiten, 24,90 Euro.

Die Historikerinpräsentiert in ihrem Buch zahlreiche teils vergessene Spiele mit genauen Anleitungen und Erfahrungsberichten. Von „Zimmer, Küche, Kabinett“ über das „Pfitschigogerln“ bis „Zur Suppe greift“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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