Eltern sein ohne Anleitung

Mother and son playing catch on porch
Mother and son playing catch on porchLaurence Mouton / PhotoAlto / picturedesk.com
  • Drucken

Mit seinem Buch "The Intuitive Parent" will ein Vanderbilt-Professor verunsicherten Eltern das Vertrauen in ihre Fähigkeiten zurückgeben.

Die Ängste, bei der Erziehung eines Kindes etwas falsch zu machen, waren vielleicht noch nie so groß wie heute. Ungeachtet der Tatsache, dass Kinder kaum je so gute Chancen hatten, gesund und gut ausgebildet das Erwachsenenalter zu erreichen wie heute in der westlichen Welt, sind Eltern verunsichert. Konzepte von der Tiger- und der Helicopter-Mom, die die Kinder rundum die Uhr bewacht, betreut und/oder (über-)fordert, zeugen von dieser Unsicherheit. Genau wie eine ganze Industrie, die Eltern suggeriert, dass diese ohne Bücher, Lernkarten und DVDs ihre Kinder um wichtige Chancen bringen, die sie später im harten Wettbewerb brauchen.

Stephen Camarata, Professor für Kindesentwicklung an der Vanderbilt Universität in Nashville, hat in der vergangenen Woche ein Buch herausgebracht, mit dem er verunsicherten Eltern das Vertrauen in ihre natürlichen Fähigkeiten zurückgeben will, ein Plädoyer für intuitive Erziehung hält – und dieses auch wissenschaftlich untermauert. Seine These lautet, dass Menschen grundsätzlich mit einer Art Bedienungsanleitung für die Erziehung ihres Nachwuchses ausgestattet sind, und diese wunderbar funktioniert, so lange man sich aktiv darauf einlässt.

Als Beispiel beschreibt der siebenfache Vater einen Moment, in dem er seine Tochter und drei Monate alte Enkelin beobachtet hat, die nach dem Stillen schaukelnd im Schaukelstuhl saßen. „Baby Nina begann zufrieden vor sich hin zu brabbeln, woraufhin ihre Mutter sie hoch nahm, vor das Gesicht hielt und ihrerseits anfing, mit hoher Stimme zu erzählen ,Dein Bauchi ist so voll! Und Mami weiß, dass du das schönste Baby von allen bist!‘ Was dazu führte, dass Mutter und Kind einander anlachten und das ganze zehn Minuten lang hin und her ging.“

Auf die Intuition vertrauen

Die Freude des Großvaters über diese Szene war genau so groß wie die Begeisterung des Spezialisten für Kindesentwicklung, der den Vorgang wissenschaftlich betrachten kann. Es zeigt, dass die Mutter ihr Kind intuitiv so hält, dass das Baby knapp 30 Zentimeter vom Gesicht der Mutter entfernt ist. Was exakt der Entfernung entspricht, auf die Kinder in diesem Alter fokussieren können. Zudem ist inzwischen belegt, dass der Singsang, in dem viele Mütter und Väter – nicht immer zur Begeisterung ihres Umfeldes – mit dem Nachwuchs kommunizieren, eine wichtige Rolle bei der Sprachentwicklung spielt, da hier bereits die besonderen Intonierungen, Melodien und Geräusche der künftigen Muttersprache wahrgenommen werden – um nur zwei Details einer ganzen Palette von Entwicklungshilfen des frühkindlichen Gehirns zu nennen, die Camarata in seinem Buch ausführt. „Mir geht es darum, Eltern wieder klar zu machen, dass sie intuitive Fähigkeiten haben und darauf vertrauen können“, unterstreicht Camarata im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. „Es gibt in unserer Gesellschaft heute so viele Kräfte, die dieses Vertrauen unterminieren und Eltern einreden, dass sie jede Menge Produkte und Methoden brauchen, um ihr Kind großziehen zu können. Mein Ansatz ist zu zeigen: ,Hier sind die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Kindesentwicklung, und die belegen, dass man sich aus diesem Kreislauf herausziehen kann.“

Vor allem die Versprechungen all der DVDs, Lernkarten und Audioprogramme sind Camarata ein Dorn im Auge. Die Grundregel laute hier: „Das Hirn lernt, was das Hirn gelehrt wird.“ Ein aufwendiges Musikprogramm, das den Kleinen beibringt, in die Hände zu klatschen und mit dem Fuß zu tippen, produziert auch genau diese Fähigkeiten: in die Hände zu klatschen und mit dem Fuß zu tippen. Aber es verbessert nicht die motorischen Fähigkeiten und eröffnet dem Buben keine Karriere als Fußballprofi. Auch mit all den unterschwelligen Drohungen, welche Entwicklungsfenster sich angeblich schließen, wenn man nicht bis zum Monat x oder y das räumliche Sehen oder sprachliche Fähigkeiten gefördert habe, räumt er auf.

„Mir geht es beim Thema Intuitive Parenting nicht um eine neue Methode, sondern um einen Zugang zur Kindesentwicklung“, so Camarata. „Jedes Kind ist unterschiedlich und lernt auf seine ganz eigene Weise und in seinem ganz eigenen Tempo. Und wenn man sich aktiv darauf einlässt, auf die eigenen Fähigkeiten vertraut und die Zeit, die man hat, liebevoll interaktiv mit seinem Kind verbringt, ist das der richtige Zugang“, so der Entwicklungsexperte.

Heißt das, dass Mütter und Väter eigentlich gar keine Bücher über Erziehung lesen müssten? „Naja, zumindest dieses eine sollten sie schon lesen“, sagt der Autor und lacht, „aber grundsätzlich würde ich sagen, ja. Man braucht einen Zugang und nicht Unmengen Bücher, die jeweils eine Methode propagieren. Und vor allem muss man in sich hineinhören, die eigenen Fähigkeiten finden und darauf vertrauen.“

Was er keineswegs als Freibrief zur Vernachlässigung missverstanden wissen will: „Es geht darum, wirklich aufmerksam mit dem Kind zu interagieren“, betont er. Und nicht der Versuchung zu erliegen, aus einem schlechtem Gewissen heraus vermeintliche Zeitdefizite mit Entwicklungshilfen aller Art ausgleichen zu wollen. „Egal, wie viel Zeit man hat, es ist auf jeden Fall besser, diese damit zu verbringen, sich auf das Kind einzulassen als eine DVD einzulegen“, so Camarata. Und darauf zu vertrauen, dass man intuitiv viel mehr richtig macht, als man glaubt.

Neuerscheinung

„The Intuitive Parent -
Why the best thing for your child is you“

Stephen Camarata, 288 Seiten, englisch, gebundene Ausgabe, 27,12Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.