Merkel schart Gleichgesinnte in der Flüchtlingskrise um sich, die Niederlande träumen von Mini-Schengen. Zerfällt die EU in Interessengruppen?
Brüssel/Wien. „Das wird keine abgeschlossene Sondergruppe“, versuchte Deutschlands Bundeskanzlerin, Angela Merkel, zu beruhigen. Sie hatte am Wochenende jene Regierungschefs zu einem eigenen Treffen am Rand des EU-Gipfels zusammengerufen, die von der Flüchtlingswelle hauptbetroffen sind. Gemeinsam wollen die acht, darunter Bundeskanzler Werner Faymann, für eine zügige Umsetzung der mit Ankara vereinbarten Maßnahmen sorgen. Neben EU-Beschlüssen zur Visumfreiheit, Hilfszahlungen zur Betreuung von Schutzbedürftigen dürfte es auch um die Aufteilung von 400.000 Flüchtlingen aus der Türkei gehen.
Der Merkel-Gruppe gehören neben Deutschland und Österreich auch die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Schweden, Finnland und Griechenland an. Es sind jene Länder, denen die restlichen EU-Partner seit Monaten bei der Lastenteilung die kalte Schulter zeigen. Auf die Frage, ob sich hier ein neues Kerneuropa herausbilde, sagte Merkel: „Im Augenblick denke ich noch nicht so weit.“
Einige andere denken freilich laut weiter: Der niederländische Finanzminister, Jeroen Dijsselbloem, sprach Ende vergangener Woche in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ offen über die Option eines Mini-Schengen. Auch er bezog sich auf eine Gruppe von Ländern, die zum vorrangigen Ziel des Flüchtlingsstroms geworden sind. Sollte keine Hilfe aus dem Rest der EU kommen, würden sich „Deutschland, die Niederlande, Schweden, Österreich und Belgien enger zusammenschließen“, kündigte Dijsselbloem an. „Wenn die EU ihre Außengrenzen nicht besser schützt, dann wird es eine kleine Gruppe von Ländern tun.“
Der niederländische Vorstoß wurde in Brüssel bereits auf Expertenebene diskutiert. Angedacht wurde ein enger Kreis von Ländern, die weiterhin untereinander ihre Grenzen offen halten, die aber an den gemeinsamen Außengrenzen eine rigorose Kontrolle einführen. Davon wäre etwa auch die Grenze zu Slowenien und Italien betroffen. Im österreichischen Innenministerium sprach man von einem „Gedankenexperiment“.
Heikel war, dass Frankreich nicht in die Gruppe eingebunden war. Dies dürfte zu Verstimmung in Paris geführt haben. Am Sonntag wies Merkel denn auch ausdrücklich darauf hin, dass zumindest ihre „Flüchtlingskrise-Selbsthilfegruppe“ für weitere Länder offenstehe. Sie versicherte, dass Frankreich informiert gewesen sei.
Kooperation in Kernbereichen
Die Herausbildung von Gruppen mit speziellen Interessen ist in der EU kein neues Phänomen. Der Lissabon-Vertrag sieht sogar ganz offiziell die Möglichkeit einer „verstärkten Zusammenarbeit“ von Ländern vor, die mit Integrationsschritten vorangehen wollen. Dies ist etwa bei einem gemeinsamen Scheidungsrecht oder dem gemeinsamen Patent so gewesen. Auch die Finanztransaktionssteuer soll lediglich in einem Teil der Mitgliedstaaten eingeführt werden.
Neu ist, dass über eine engere Zusammenarbeit in politischen Kernbereichen diskutiert wird. Also dort, wo es längst eine gemeinsame rechtliche Grundlage gibt – etwa bei Schengen oder in der Asylpolitik. Auch in der Eurokrise haben sich bereits Gleichgesinnte gefunden, die bereit waren, eine kleinere, aber stabilere Währungsunion zu bilden und Länder wie Griechenland zu verabschieden.
Faymann, der sich nun an Merkels Gruppe beteiligt, hat noch im Oktober in einem Interview mit der „Kronenzeitung“ vor einem „leisen Zerfall der EU“ gewarnt, sollte auf Fragen wie die Flüchtlingskrise keine gemeinsame Antwort gefunden werden.
AUF EINEN BLICK
Flüchtlingskrise. Die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, rief am Rande des EU-Sondergipfels am Wochenende jene Regierungschefs zusammen, die von der Flüchtlingswelle hauptbetroffen sind. Ziel ihre Initiative sind eine engere Kooperation und eine gemeinsame rasche Umsetzung der Vereinbarungen mit der Türkei. Wenige Tage zuvor hat der niederländische Finanzminister, Jeroen Dijsselbloem, ein „Mini-Schengen“ angeregt.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2015)