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Mutter und Kind
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In "How to Raise an Adult" erklärt die frühere Stanford-Dekanin Julie Lythcott-Haims, wie Eltern ihren Nachwuchs zu Erwachsenen erziehen können.

Dieses Buch könnte das ,Black Hawk Down‘ des Helicopter Parenting werden“, schrieb die Buchkritikerin der „New York Times“ über „How to Raise an Adult – Wie man einen Erwachsenen großzieht“. Geschrieben hat es Julie Lythcott-Haims, weil sie in ihrem beruflichen Alltag über Jahre beobachtet hat, wie weit verbreitet überbehütende Eltern sind, die ihren bereits erwachsenen Nachwuchs immer noch wie Kinder behandeln. Zehn Jahre lang war die studierte Juristin Dekanin für die Studienanfänger in Stanford und hat dabei viel gesehen, was nur wenig mit dem selbstständigen und selbstbewussten Auftreten zu tun hatte, das man sich von jungen Menschen zu Studienbeginn an einer Eliteuniversität erwartet.

Viele von ihnen wurden von ihren Eltern auf den Campus begleitet oder waren schon damit überfordert, jemanden zu finden, der ihnen beim Tragen von drei Umzugskartons half. Ein Problem, das die Frau Mama glücklicherweise mit einem Anruf aus der Heimat lösen konnte. Wenn sie denn überhaupt im Heimatort geblieben war. Denn die Zahl der Eltern, die zum Teil täglich am Studienort des Nachwuchses auftauchen und ihm die Wäsche machen, ist genauso gewachsen wie die jener, die auch in den studentischen Beratungsgesprächen bestenfalls nur dabeisitzen, schlimmstenfalls die gesamte Kommunikation für ihre „Kinder“ übernehmen. Erlebnisse, die Lythcott-Haims zu der Frage „Warum hat sich der Erziehungsgedanke von der Vorbereitung der Kinder auf das Leben zu einem Konzept des Beschützens der Kinder vor dem Leben gewandelt?“ bewegt haben. Mit ihrem Buch will sie zeigen, wie man diesen Irrweg wieder verlassen kann.

Denn dass „Overparenting“ auch schaden kann, lässt sich mittlerweile wissenschaftlich belegen. Lythcott-Haims verweist etwa auf eine Studie der Universität Tennessee, die einen Zusammenhang zwischen Helikopter-Erziehung und dem Gebrauch von Medikamenten gegen Depressionen und Angstzustände aufzeigt; eine andere zitierte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil von Depressionen unter Jugendlichen aus bürgerlichen Familien inzwischen jenem von inhaftierten Straftätern entspricht.
Und diese Ergebnisse sind nicht das Resultat von Nachlässigkeit, ganz im Gegenteil: Die leise Sehnsucht nach den heute so verpönten Laissez-faire-Eltern der 1970er-Jahre, die ihre Kinder mittags allein zum Spielen vor die Tür schickten, kommt in dem Buch immer wieder zur Sprache. Diese weniger beschützte Kindheit würde heute – vor allem in den USA – bereits als Vernachlässigung Minderjähriger gelten. Da würden bereits die natürlichsten Handlungen (über)bewertet. So berichtet Lythcott-Haims von Eltern, die darauf bestanden, ein anderes Kind wegen Mobbings des Kindergartens zu verweisen. Das Mobbing des Vierjährigen bestand darin, dass er einem anderen Vierjährigen in der Sandkiste mit einem Plastikschauferl auf den Kopf gehauen hatte. Ein Vorfall, den die beiden Kinder 20 Minuten später längst vergessen hatten, während er Eltern und Kindergartenleitung noch lang beschäftigte.

Konflikte aus dem Weg räumen

Diese Selbstverständlichkeit, mit der Eltern ihren Kindern Konflikte aller Art aus dem Weg räumten, trage dazu bei, ein wirkliches Erwachsenwerden zu verhindern. Wer das vermeiden wolle, müsse – auch gegen die herrschende Meinung von Nachbarn, anderen Eltern, Lehrern – wieder einige Dinge wagen, die einst selbstverständlich waren. Dazu gehört, den Kindern unverplante Zeit zu geben, in der sich die Eltern nicht einmischen, also auch nicht mitspielen. Oder Kinder zu Fragen und eigenen Lösungen zu motivieren, statt ihnen die Welt zu erklären und jedes erdenkliche Hindernis auf dem Weg zum Erfolg auszuräumen.

Denn auch und vor allem das Umgehen mit Niederlagen und Enttäuschungen sei in der vergangenen Generation oft zu kurz gekommen, so die Autorin. Auf der langen Liste von Dingen, die für Lythcott-Haims zum Erwachsenwerden gehören, stehen so unschöne Erlebnisse wie nicht zu einer Geburtstagsfeier eingeladen zu werden, zu erfahren, dass das Ferienlager ausgebucht ist, eine schlechte Note zu bekommen, obwohl man gelernt hat, für etwas beschuldigt zu werden, das man nicht getan hat, oder der Letzte zu sein, der in ein Team gewählt wird.

Get a Life

Der vielleicht wichtigste Rat, den Lythcott-Haims Eltern mitgibt, ist so simpel wie provokativ: „Get a life!“ Denn nur, wenn man den Kindern ein erfülltes Erwachsenendasein vorlebe, das nicht daraus bestehe, bei wirklich jedem Fußballspiel des Nachwuchses anfeuernd an der Seitenlinie zu stehen und neben den täglichen Fahrdiensten die Hausübungen der Kinder nicht nur zu überwachen, sondern mitunter auch noch zu schreiben, gäbe man ein Rollenmodell ab, dem Kinder nacheifern können. „Wenn Du Deinen Kindern zeigen willst, dass Sport wichtig ist, jogge“, rät die Autorin; wer klarmachen wolle, dass Spaß zu haben einen Stellenwert habe, solle sich besser selbst mit Freunden treffen, statt „Playdates“ für die Kinder zu organisieren. Oder ein Buch lesen, ins Theater gehen und dem Nachwuchs danach davon berichten. „Deine Kinder wollen, dass du ein eigenes Leben hast“, ist Lythcott-Haims überzeugt, „aber so wie die Dinge im Moment laufen, werden sie 25, ohne einen Erwachsenen sein eigenes Leben leben zu sehen.“

Buch und Autorin

Julie Lythcott-Haims ist studierte Juristin, war früher Anwältin und Studiendekanin an der Universität von Stanford. „How to Raise an Adult“ ist ihr erstes Buch. Sie lebt mit ihrer Familie im Silicon Valley.

„How to Raise an Adult“ – frei übersetzt „Wie man einen Erwachsenen großzieht“ – von Julie Lythcott-Haims, Henry Holt Verlag, New York, 389 Seiten, englisch, gebundene Ausgabe, 25,25 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2016)

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