Krisenpädagogik auf Amerikanisch

Gewaltmärsche, im Freien schlafen – die Jugendlichen im Redcliff-Camp müssen einiges ertragen.
Gewaltmärsche, im Freien schlafen – die Jugendlichen im Redcliff-Camp müssen einiges ertragen.Redcliff
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Sie sind die letzte Hoffnung für Eltern, die nicht mehr weiterwissen: Wildnis- Programme für schwer erziehbare Jugendliche. Das härteste liegt in Utah.

Barbara und Frank Wilton (alle Namen geändert) haben sich den ganzen Tag nichts anmerken lassen. Das Ehepaar aus der US-amerikanischen Küstenstadt Boston aß wie gewöhnlich mit seinem 15-jährigen Sohn Kyle zu Abend. Aber nur die Eltern wussten, dass es sein letztes Abendmahl zu Hause sein würde – für eine lange Zeit. Denn für den kommenden Morgen hatten die beiden eine Spezialfirma engagiert, mit dem Auftrag, ihren Sohn zu entführen.

Was klingt wie ein müder Handlungsfaden in einer Soap-Opera, ist tatsächlich Krisenpädagogik auf Amerikanisch: verzweifelte Eltern, die im Erziehungskampf mit ihren mehr als widerborstigen Teenagern zum Äußersten greifen. Im Fall der Familie aus Boston ist das ein unangekündigter sowie unfreiwilliger Wildnistrip für den bereits mit dem Gesetz in Konflikt geratenen Sohn. Mutter und Vater Wilton haben sich dazu entschieden, Kyle in das Redcliff Ascent Wilderness Treatment Program zu schicken, ein Camp für schwer erziehbare Jugendliche.

Jugendliche wie Kyle. „Er war ein äußerst reizendes und fröhliches Kind, höflich, positiv und glücklich“, erzählt Frank. Den Draht zu den Eltern habe Kyle mit beginnender Pubertät verloren. Er geriet an die falschen Freunde, die ihn mit Alkohol, Drogen, schlussendlich auch mit leichter Kriminalität in Kontakt brachten. Mehrmals war die Polizei bei den Wiltons zu Hause. Ein paar Mal wurden Augen zugedrückt.

Doch die letzte Episode, es ging um versuchten Drogenhandel, war den lokalen Justizbehörden dann doch zu viel: Kyle drohte das Jugendgefängnis. Es ist sein Glück, dass die Eltern gut situiert sind und sich die Bezirksanwälte in den USA auf Deals einlassen. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind in mehrere zehntausend Dollar teure Programme wie Redcliff – die so hart sind, dass sogar Jugendgerichte sie als ausreichende Strafe ansehen.

Dass ihr Sohn da nicht freiwillig hingehen würde, war den Wiltons klar. Daher klopften eines Morgens um sieben Uhr zwei schwarz gekleidete Männer an die Tür ihres Hauses in einer noblen Bostoner Gegend. Beide hatten die ausgeprägten Körper von Türstehern und fackelten nicht lange – ohne Gepäck und Zeit für Gemurre luden sie Kyle in ihren dunklen Van, führten ihn zum Flughafen und setzten ihn in ein Flugzeug. Das Ziel: Enterprise, Utah.

Kein Ort für Spaß. Der Mormonenstaat ist schon dank seiner wertkonservativen und streng religiösen Bevölkerung keine Spaßdestination. Neuankömmlinge im Redcliff-Camp erwarten tagelange Gewaltmärsche durch die Wüsten, Berge und Wälder und Übernachtungen unter dem freien Himmel – den Schlafsack und Decken muss man sich in den ersten paar Wochen des Programms erst einmal verdienen. Dazu kommt der kalte Entzug – viele der Jugendlichen haben neben emotionalem Ballast auch Suchtprobleme im Gepäck. Aber Alkohol, Marihuana, Tabak: Nichts davon ist in der einsamen Wildnis Utahs erlaubt oder zu beschaffen. Das stellt die unfreiwilligen Camper vor zusätzliche Herausforderungen.

Die Wiltons wussten, wohin sie ihren Sohn schickten. „Wir haben uns verschiedene dieser Camps angesehen, sie haben alle mit einer gewissen Härte und Strenge geworben. Dass wir uns dann für das härteste und strengste von allen entschieden haben, wurde uns erst später bewusst“, sagt Barbara.

Sie hat sich von den Erfolgsgeschichten auf der Homepage von Redcliff überzeugen lassen. Geschichten, die beschreiben, wie die harten Monate Jugendliche zurück auf den richtigen Weg brachten. Ex-Camper berichten da, wie sie dank des Programms gerade noch die Kurve gekratzt haben: „Meine Freunde waren wirklich sauer auf meine Eltern, nachdem sie mich nach Utah geschickt haben. Ein paar Wochen, nachdem ich hier ankam, wurden fünf von ihnen verhaftet. Mich hätte es auch erwischt“, erzählt Jason. Kelly, ein Mädchen, das 2009 das Programm durchlief, wünscht sich gar, wieder ins Camp zurückzukehren. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich es zugeben würde, aber ich habe die Zeit hier wirklich genossen.“

Auch Todesfälle. Wie viel Marketing hinter diesen Testimonials steckt, lässt sich freilich nur mutmaßen. Auch wie vielen Jugendlichen nachhaltig geholfen werden konnte, ist nicht überliefert. Auch sind Programme wie dieses nicht gänzlich unumstritten: Kritiker werfen den Betreibern vor, die Jugendlichen zu hart anzupacken. Sogar über Todesfälle in anderen Bundesstaaten wurde berichtet, bei Redcliff ist es allerdings nie so weit gekommen. Ein großer Mitarbeiterstab an Betreuern, Psychologen und Erziehern hat die Jugendlichen ständig im Auge und passt auf, dass sie die Campregeln einhalten. Darunter fällt auch das für diese Generation mehr als drakonisch anmutende Verbot jeglicher technischer Gerätschaften – wenn die Jugendlichen von zu Hause abgeholt werden, bleibt das Smartphone ausnahmslos zurück.

„Es geht uns darum, die Verhaltensmuster der Jugendlichen zu durchbrechen“, sagt Steve Schultz, der Sprecher von Redcliff. Mit den Mustern meint der Psychologe, der 27 Jahre an Erfahrung in der Jugendbetreuung vorweisen kann, Drogenkonsum, schlechte Schulnoten, Konfrontationen mit den Eltern. Die konventionelle Therapie in solchen Fällen funktioniere nur bedingt, erklärt er. „Die Jugendlichen gehen einen Tag in der Woche zum Psychologen, hören sich das alles an, aber es prallt an ihnen ab. Das geht so über Monate, ohne spürbaren Erfolg. Sobald die Jugendlichen wieder daheim sind, machen sie mit ihrem Verhalten gleich weiter.“ In der Wildnis hingegen hätten sie dazu keine Chance, so Schultz. Die ungewohnte Umgebung und der Drill durchbrechen ihre Verhaltensmuster, geben ihnen Zeit zum Denken, so die Philosophie hinter dem Programm. „Unser Zugang ist in diesen Fällen effektiver als die Psychologen-Couch. Idealerweise löst er bei den Jugendlichen Aha-Erlebnisse aus“, sagt er.

Ob Kyle schon einen Aha-Moment hatte, ist nicht überliefert. Er ist erst im Jänner 2016 in das Camp gekommen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer dort beträgt neun Wochen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2016)

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