Ein bisschen Streit muss sein

(c) Imago
  • Drucken

Bei der Erziehung sollten Eltern ruhig selbstbewusst die Führungsrolle übernehmen. Auch wenn das zu Konflikten führe, sagt Erziehungsexperte Jesper Juul in seinem neuen Buch.

Er gilt seit bald vier Jahrzehnten als „Verfechter einer entspannten Erziehung“. Die Rede ist von Jesper Juul, dem dänischen Familientherapeuten, der dank seiner Ratgeber und der unterschiedlichsten Kolumnen, die er schreibt, auch im deutschsprachigen Raum vielen Eltern ein Begriff ist. Würde man seine gut 25 Bücher auf einen Nenner bringen müssen, dann wäre das vermutlich folgender Satz: Eltern sollten bei der Erziehung die Zügel locker halten. Kinder wollen gesehen werden, so seine Grundthese, und das funktioniere nur, wenn die Eltern auf Augenhöhe mit ihnen kommunizieren würden. Nun hat Jesper Juul ein neues Buch mit dem etwas irritierenden Titel „Leitwölfe sein“ herausgebracht, und darin vollzieht er eine kleine Kehrtwende.

Kinder, die beim täglichen Aufstehen und Zubettgehen strampfen und aus jedem Anziehritual, jeder Nahrungsaufnahme ein kleines Drama in vier Akten machen – hier ortet der Experte „ein ganz klares Zeichen für zu wenig Führung“ bei den Eltern. Dass so viele Eltern an Kleinigkeiten scheiterten, liege daran, dass sie ihre Autorität nicht wahrnehmen. Weil sie den Kindern negative Erfahrungen ersparen wollten, würden sie vor unangenehmen Entscheidungen zurückweichen. Juuls Wende ist tatsächlich nur eine kleine. Er plädiert keinesfalls für eine Rückkehr der autoritären Erziehung, im Gegenteil: Man müsse seine persönliche Autorität einsetzen, ohne autoritär zu sein – also immer aufmerksam die Reaktion der Kinder beachten und diese ernst nehmen.

Und überhaupt spricht Juul von einem kleinen Missverständnis der Öffentlichkeit, wenn es um seine Erziehungsthesen geht. Er selbst sieht seinen neuesten Ratgeber nicht als Gegenthese zu früheren Werken. Bisher hätten seine Leser schlicht „ihre eigenen romantischen Ideen in meine Ratschläge projiziert“, sagte er kürzlich dem „Spiegel“. Es gebe sehr viele Probleme, die alle aus einem „Mangel an Führungsqualität“ resultierten. Ein Mangel, den er bei vielen Müttern und Vätern ortet.

Eine solche Kritik hört die steirische Kinderpsychologin Sabine Wirnsberger nicht gern: „Wir hatten noch nie so tolle Eltern wie heute. Sie haben ein hohes Erziehungsbewusstsein, sie informieren sich und stellen ihr eigenes Verhalten infrage.“ Doch in einem Punkt ist sie sich mit Juul und vielen anderen Experten einig: Kinder verlangen zwar viel Aufmerksamkeit, brauchen aber nicht so viel, wie sie fordern.


Nicht jeden Wunsch erfüllen. Ein Satz, den viele Eltern sicher gern hören – auch wenn er im Alltag zu Streit führen kann: weil der Nachwuchs nicht von selbst versteht, dass der Vater in Ruhe telefonieren oder sich rasieren will. Doch ein Streit muss nichts Schlechtes sein: In der Erziehung auch Konflikte auszutragen sei sehr wichtig, sagt Wirnsberger. Kinder müssten lernen, dass es auch Wünsche gibt, die nicht erfüllt werden: „Sie lernen damit, von der erstbesten Lösung auf die zweitbeste umzusteigen und trotzdem zufrieden zu sein.“

Eltern müssten nicht alle Wünsche ihrer Kinder erfüllen, manche dürften und sollten sie sogar ignorieren. Gewisse Dinge seien ohnehin unverhandelbar: dass man abends schlafen geht und morgens in die Schule, dass man Hausübungen macht und die Zähne putzt. Dinge, die die Eltern durchsetzen müssen, denn schließlich sind sie verantwortlich. Und der kleine Bub, der am Abend quengelt, weil die Mutter unbedingt noch mit ihm und seiner Lokomotive die Höhen der Berge und die Tiefen der Täler erkunden muss, nachdem sie einen ausgesprochen anstrengenden Tag hatte? Er könne ruhig auch einmal die Nachricht erhalten, dass „Mama jetzt einfach müde ist“. Und man das Spiel am Wochenende nachholen kann. Der falsche Weg sei jedenfalls ein unwilliges Mitmachen beim Spiel, ein So-tun-als-ob, bei dem das Kind genau merke, dass es den Erwachsenen nervt, sagt die Kinderpsychologin.


Harmonie wird überschätzt. Wird Harmonie in der Familie also überschätzt? Ja, denn sie darf nicht das oberste Ziel sein. Wobei Kinder klarerweise nicht von selbst von ihren Forderungen ablassen. Sie agieren nach dem Lustprinzip und bringen lange Zeit kein Verständnis dafür auf, dass sie mit ihrem Verhalten ihre Eltern kränken können. Was man den Kindern sicher leichter verzeihen kann, wenn man seine eigenen Bedürfnisse für sie nicht komplett über Bord wirft.

Mehr Achtsamkeit also bezüglich der eigenen Wünsche, so lautet der einfache Leitsatz für Eltern. Ein klarer Rahmen, innerhalb dessen die Kinder dann aber möglichst viel Freiheit haben sollen. Verunsicherte junge Eltern dürften bei der Erziehung den Blick ruhig auch einmal auf sich selbst richten. Denn wichtig sei vor allem eines, sagen die Experten: dass man den Kindern vorlebe, wie ein gelungenes Leben aussieht.

Auch nicht leicht, aber möglicherweise leichter. Man kann daran denken, wenn das Kind beim nächsten Frühstück darauf besteht, dass man die Cornflakes entferne, in die Küche gehe und etwas Warmes zubereite. Denn auch, wenn man als Elternteil in der einen oder anderen Situation vom Kind vielleicht etwas anderes zu hören bekommt: Wünsche sind nicht mit Bedürfnissen gleichzusetzen. Und: „Wir können gar nichts dagegen tun, gute Eltern zu sein“, wie Sabine Wirnsberger sagt. „Wir sind biochemisch so ausgerichtet.“

Das Buch

Jesper Juul, geboren 1948 in der dänischen Hafenstadt Vordingborg, war u. a. Jungkoch in einer Reederei und Tellerwäscher, bevor er Geschichte und Religion studierte und nach dem Studium als Lehrer und Sozialpädagoge arbeitete. 1970 gründete er mit seinem Kollegen Mogens A. Lund und dessen Frau Lis Keiser ein eigenes Institut, das er bis 2006 leitete. Nebenbei verantwortete er zahlreiche andere Projekte und veröffentlichte Dutzende Erziehungsratgeber.

Das jüngste Werk erschien soeben auf Deutsch: „Leitwölfe sein – Liebevolle Führung in der Familie“ (Beltz Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.