"Es ist fast unmöglich, einen Amoklauf zu verhindern"

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Warum laufen Schüler immer wieder Amok? Was treibt diese Jugendlichen an? Wie ticken sie? Die Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner im Interview.

Immer wieder laufen Schüler Amok. Sind das wirklich die Außenseiter, die brutale Computerspiele spielen, wie man glauben möchte?

Heidi Kastner: Da diese Fälle Gott sei Dank eher selten sind, ist es mit statistischen Aussagen schwierig. Was sich aber aus bisher bekannten Fällen herleiten lässt: Nein, die Theorie vom gewalttätigen Einzelgänger passt nicht immer. Viele Amokläufer sind vorher ziemlich unauffällig, in ein familiäres Umfeld eingebettet, haben Freunde. Ein gutes Beispiel dafür sind etwa jene Schüler, die 1999 in Columbine an einer Schule zwölf Menschen ermordet haben. Keiner hat ihre Tat vorhergesehen, keiner hätte ihnen das zugetraut – und dass sie nicht allein waren, beweist der Umstand, dass sie zu zweit waren.

Welche psychischen Krankheiten liegen bei Amokläufern vor?

Rund die Hälfte hat eine psychische Erkrankung, etwa ein Drittel eine Psychose, zehn Prozent einen Wahn. Diese Menschen glauben dann etwa, dass sie von Robotern umgeben sind, die sie töten müssen. Warum so jemand über seinen Wahn nie spricht und dann Amok läuft, ist von außen oft rational gar nicht mehr nachvollziehbar, aber auch nicht absehbar. Ein weiteres Drittel ist schon zuvor auffällig im Sinn einer Persönlichkeitsstörung.

Und bei denen es nachvollziehbar ist – welche Tatmotive haben diese Jugendlichen?

Meistens ist es irgendeine Form von Rache, weil sie sich ungerecht behandelt oder zu wenig beachtet gefühlt haben. Manchmal sind es konkret die Lehrer und Schüler, von denen sich jemand vielleicht ausgeschlossen gefühlt hat, manchmal die Familie, einzelne Gruppen, und manchmal ist es dann wohl die ganze Welt, die einen angeblich schlecht behandelt.

Handelt es sich bei Amokläufen eher um Kurzschlussreaktionen oder ist das geplant?

Bei der überwiegenden Zahl der Taten gibt es eine Vorlaufzeit, in der sich die Täter damit beschäftigen, wie sie der Welt etwas beweisen können – wie sie etwa den größtmöglichen Schaden anrichten können. Sie planen dann ganz genau, wo, wann und wie die Tat begangen werden soll. Eine Waffe muss man sich ja als Jugendlicher auch erst einmal beschaffen.

Wie kann man Amokläufe verhindern?

Es ist fast unmöglich, einen Amoklauf zu verhindern – außer man entdeckt vorher mehr oder weniger zufällig etwas. Hinweise, meist in den sozialen Medien. Manchmal werden Taten angekündigt, man spricht dann von „leakings“, und je konkreter die Ankündigung, desto ernster sollte man die Sache nehmen.

Welche Rolle haben das Internet und die sozialen Medien bei Amokläufen?

Einerseits sind sie eventuell dafür gut, um vorher etwas zu entdecken und so Täter vielleicht abzufangen. Andererseits sind sie für die Täter ein gutes Mittel, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – und sich Inspiration zu holen. Die Empfehlung eigentlich aller Fachleute lautet: Die Medien sollen weder Name noch Foto des Täters veröffentlichen, um nicht den Tätern die Gratifikation der „Großartigkeit im Negativen“ zu liefern. Es sollte klar sein, dass auf diesem Weg auch keine posthume Berühmtheit zu erreichen ist.

Steckbrief

Adelheid Kastner
ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und Chefärztin der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik Wagner Jauregg in Oberösterreich. Sie ist seit 1998 als Gerichtspsychiaterin tätig.

Die Fälle
Kastner war unter anderem als Gerichtsgutachterin im Fall Fritzl tätig. Der Mann hatte seine Tochter 24 Jahre lang in einer unterirdischen Wohnung gefangen gehalten und mit ihr sieben Kinder gezeugt. Kastner war auch als Gutachterin rund um die Missbrauchsfälle im Stift Kremsmünster tätig. APA

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2016)

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