Das Ende der Kindheit verhindern

Nicht mehr alles eitel Wonne: Nicht nur Kinder leiden unter einer Scheidung, sondern auch die Eltern.
Nicht mehr alles eitel Wonne: Nicht nur Kinder leiden unter einer Scheidung, sondern auch die Eltern.(c) Chris Adams / Westend61 / picturedesk.com
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Der Harvard-Dozent John Chirban will mit seinem neuesten Buch, „Collateral Damage“, Eltern und Kinder in der schweren Zeit einer Scheidung unterstützen.

Es ist vor allem die Quelle, die die Erkenntnisse so ungewöhnlich macht, die Dr. John Chirban in seinem jetzt erschienenen Buch, „Collateral Damage – Guiding and Protecting your Child through the Minefield of Divorce“ („Kollateralschaden – Wie Sie Ihr Kind schützend durch das Minenfeld der Scheidung geleiten“), verarbeitet. Denn der promovierte Psychologe, Theologe und Dozent der Universität Harvard hat sich dafür an eine breite, mediale Öffentlichkeit gewandt. Als Mitglied im Beirat der in den USA populären psychologischen Ratgebersendung „Dr. Phil“, die täglich im Durchschnitt rund 4,4 Millionen Zuschauer lukriert, konnte Chirban die Website der Sendung nutzen, um sich direkt an Menschen zu wenden, die entweder als Kinder oder als Elternteil eine Scheidung durchlebt haben. Mehr als 10.000 Menschen – 5600 Eltern und 4300 (einstige) Kinder – sind dem Aufruf gefolgt und haben über ihre Erfahrungen berichtet. „Viele Teilnehmer nutzten unsere Umfrage als therapeutischen Ort, an dem sie über ihre Bedürfnisse, Versäumnisse und Enttäuschungen reden konnten“, berichtet Chirban im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.

Frappierende Erkenntnisse

Sie berichteten auch über Erfahrungen, die der Psychologe, der seit über 30 Jahren lehrt, forscht und praktiziert, so nicht erwartet hätte. „Am meisten hat mich die Ungleichheit in der Wahrnehmung von Eltern und Kindern frappiert“, berichtet Chirban, „denn obwohl 49 Prozent der Eltern überzeugt waren, dass sie für ihre Kids immer greifbar waren, fühlten sich 85 Prozent alleingelassen.“ Ein anderes unerwartetes Ergebnis der Studie war die Tatsache, dass von den 20 Prozent jener Kinder, die während der Scheidung ihrer Eltern in therapeutischer Betreuung waren, 70 Prozent angaben, dass diese nicht hilfreich war.

Aus diesen und anderen Erkenntnissen der Studie hat Chirban seinen im Jänner erschienen Leitfaden entwickelt, in dem er darauf eingeht, wie Eltern ihre Kinder in diesem ungemein schwierigen und meist auch traumatischen Prozess begleiten können. „Die überwältigende Mehrheit der betroffenen Kinder sagt aus, dass die Scheidung ihrer Eltern nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Kindheit beendet hat“, so der Psychologe, „und mir geht es in meinem Buch um den Versuch, diese Erfahrung zu minimieren.“ Wofür es vor allem eines brauche, wie der Forscher betont: „Eltern, die weiter die Rolle der Eltern ausfüllen, damit die Kinder Kinder bleiben können.“

Was leichter gesagt als getan ist, wie Chirban nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als geschiedener Vater von drei Kindern weiß. Weshalb sein Buch auch weder anklagend noch verurteilend ist, sondern immer wieder betont, wie wichtig es für den Prozess ist, dass die Elternteile auch auf sich selbst schauen, eigene Freundschaften pflegen, auf ihre Gesundheit achten und Raum für gemeinsame Aktivitäten und Spaß schaffen. „Im Grunde ist es das gleiche Prinzip wie die Ansage im Flugzeug, dass man im Ernstfall zunächst selbst die eigene Sauerstoffmaske aufsetzt, ehe man anderen hilft“, vergleicht Chirban es in seinem Buch. Dieser achtsame Umgang mit sich selbst und den eigenen Emotionen sei Voraussetzung dafür, den Kindern in dieser schwierigen Situation als liebevolle, sorgende und verlässliche Bezugspersonen zur Verfügung zu stehen. Und damit die klassischen Stolperfallen zu umgehen, in die Eltern immer wieder geraten, wie er mit zahlreichen Fallbeispielen aus der Studie illustriert. Zu ihnen gehören die „Good cop, bad cop“-Spiele zwischen den Ex-Partnern, das Buhlen darum, wer der geliebtere Elternteil ist oder die Versuchung, den Kindern auch die Rolle des Trösters und Therapeuten aufzudrängen.

Der sorgsame Umgang mit sich selbst schaffe auch die Voraussetzungen dafür, selbstbewusst notwendige Entscheidungen zu treffen, um etwa die Zusammenarbeit mit einem nicht hilfreichen Therapeuten zu beenden, wie Chirban erklärt: „Wenn mein Kind Bauchschmerzen hat und der Arzt zwei Wochen lang keinen Weg findet, diese zu lindern, werde ich sicherlich zu einem anderen gehen“, bringt er es auf den Punkt. „Und wenn ein Therapeut meinem Kind nicht helfen kann, wird er eben nicht der Richtige für mein Kind sein, und dann muss ich diese Entscheidung genauso treffen.“

Kindern den Glauben geben

Damit erfüllen Eltern eine der wichtigsten Aufgaben während des Scheidungsprozesses: dem Kind den Glauben wieder zu geben, dass es sich auf die Mutter oder den Vater absolut verlassen kann, auch wenn die Familieneinheit so nicht weiter besteht. Wobei das „oder“ in Chirbans Buch bewusst gewählt ist und zu den guten Nachrichten für betroffene Eltern gehört: Es reiche ein engagierter, informierter und reflektierter Elternteil, um das Kind behütet und unterstützt durch diesen schwierigen Prozess zu begleiten. „Davon bin ich absolut überzeugt“, betont Chirban. „Egal, ob es der Vater oder die Mutter ist, wenn ein Elternteil entschlossen ist, das Kind zu umsorgen, zu unterstützen und zu erziehen, kann man das hinbekommen.“

Welche Fähigkeiten, Maßnahmen und Rituale dabei hilfreich sein können, beschreibt Chirban in seinem Buch sowohl entlang des Erikson'schen Stufenmodells der psychosozialen Entwicklung für die verschiedenen Altersstufen, in denen das Kind mit der Trennung der Eltern konfrontiert wird, als auch anhand von Fallbeispielen aus der Studie – die teilweise als schaurig-schlechte Beispiele dienen. Außerdem widmet er sich in einem abschließenden Kapitel dem immer wichtiger werdenden Thema, wie es nach der Scheidung weitergeht, wenn nach dem Ende der ersten Familie das Zusammenwachsen einer potenziellen neuen Patchworkfamilie ansteht.

Was Chirban bei aller Unterstützung der Eltern aber nicht anbietet, ist ein Freispruch von Verantwortlichkeiten, egal, wie schwierig diese Phase auch für die Erwachsenen sein mag. „Bei allem Mitgefühl kann man die Eltern nie aus der Verantwortung entlassen“, ist er trotz oder gerade wegen seiner eigenen Erfahrungen unnachgiebig. „Kinder brauchen viel, und wenn ich mich für ein Kind entschieden habe, bin ich immer dafür verantwortlich, vor allem in einer solch schwierigen Zeit. Das ist nichts anderes, als wenn mein Kind ins Spital müsste oder eine Essstörung hätte: Natürlich ist das auch für die Eltern überwältigend und schwierig. Aber gerade dann brauchen die Kinder sie besonders dringend in ihrer Elternrolle.“

ERSCHIENEN

„Collateral Damage:Guiding And Protecting Your Child through the Minefield of Divorce“, von Dr. John T. Chirban, Harper-Collins-Verlag, Hardcover, Englisch, 240 Seiten,
ab 20,26 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2017)

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