Stillen: Die Macht der Milch

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Wer stillt, hat recht. Wer nicht stillt, ist schlecht. Und zwar für sein Kind. An diesem Dogma des schlechten Gewissens wird jetzt allerdings gerüttelt - auch von der Wissenschaft.

Das Thema ist an und für sich ein einziges Klischee. Besser gesagt, zwei. Auf der einen Seite sitzt die gute Mutter, den Säugling an der Brust, strahlend in dem Bewusstsein a) das Richtige und b) ihrem Kind etwas Gutes zu tun. Auf der anderen Seite sitzt die Nicht-so-gute-Mutter, die zwar auch ihr Baby im Arm hält, in der anderen Hand aber die Flasche mit der Fertigmilch. Implizit in diesem Bild ist noch immer, dass diese Mutter a) das Falsche und b) ihrem Kind nichts Gutes tut. Wer stillt, hat recht. Wer nicht stillt, ist schlecht. Für das Baby.

An diesem Dogma rüttelt man nach wie vor auf eigenes Risiko. In der Wellenbewegung, die unsere Einstellung zum Stillen im Konsumzeitalter charakterisiert, haben derzeit die absoluten Stillbefürworter klares Oberwasser. Vor 50 Jahren hingegen war die Flasche keine große Sache, da vereinten sich die ideologischen Interessen der Frauenbewegung und die wirtschaftlichen Überlegungen der Babymilchhersteller zu einem schnell zubereiteten Muttermilchersatz. Die Gegenbewegung machte sich die Hochkonjunktur wissenschaftlicher Erkenntnisse rund ums tägliche Leben zu nutze und schwang sich auf dem Rücken einer perfektionistischen Neuen Mütterlichkeit aufs Podest.

Die größten Kritiker: andere Mütter. Dort steht Stillen heute – als der Inbegriff der mütterlichen Hinwendung und Opferbereitschaft. Das Gros der Frauen unterwirft sich diesem Dogma. Oder wird ihm vom Kollektiv unterworfen. Denn sehr oft sind die größten Kritiker nicht-stillender Mütter ... andere Mütter. Eine breite Front der Ablehnung tut sich gegenüber jenen auf, die entweder überhaupt darauf verzichten zu stillen oder nach kurzer Zeit zur Flasche greifen. „Rabenmutter“, heißt es zum Beispiel. „Du willst ja bloß auf dein Sozialleben nicht verzichten und das Kind beim Babysitter lassen. Das geht natürlich nicht, wenn du ihm die Brust gibst.“ Wer zu wenig Milch hat oder mit dem Stillen einfach nicht zurechtkommt, wird schnell ins unzulängliche Eck gerückt.

Ärzte, Hebammen und Stillberater tun ein Übriges. Sie stehen für den wissenschaftlichen Beweis, dass Stillen das Beste für die Entwicklung des Kindes ist und seine Gesundheit nicht nur kurzfristig, sondern für den Rest seines Lebens beeinflusst – das Immunsystem stärkt, gegen Allergien schützt und Übergewicht vorbeugt.

Getrieben von der Angst, eine schlechte Mutter zu sein und gleich in den ersten Lebenswochen des Kindes zu versagen, nehmen gar nicht so wenige Frauen Bedingungen auf sich, die von Folter nicht sehr weit entfernt sind. Sie pumpen und kühlen, sie schmieren und stülpen sich Hütchen über (nicht auf den Kopf), sie leiden Schmerzen, nehmen atemberaubende Positionen ein und geben Unsummen für Stillgruppen und Stillberater aus.

In der letzten Zeit schwindet aber offenbar die Bereitschaft, sich derart vom schlechten Gewissen freizukaufen. Von den USA über Frankreich bis Deutschland schreiben Frauen in zeitgeistigen Magazinen offen gegen die Tyrannei dessen an, was sie die „Stillmafia“ nennen. Und zwar ohne sich deshalb gleich auf die Seite von „Extremistinnen“ wie der französischen Philosophin Elisabeth Badinter zu schlagen, die dem Mutterinstinkt grundsätzlich eine Absage erteilt. „Instinkte sollte man den Tieren vorbehalten“, sagte Badinter in einem Interview mit der „Presse am Sonntag“.

Die Frauen, die gegen die „Stille Macht“ (so der Titel eines Essays in der „Zeit“) aufbegehren, wehren sich gegen die Gleichsetzung „Nur eine stillende Mutter ist eine gute Mutter“. Dazu gehöre doch wohl etwas mehr, meinen sie. Niemand, der sein Kind gerne, lang und in der Öffentlichkeit stillt, dürfe schief angeschaut werden. Genauso aber sollte auch keine Frau, die darauf verzichtet, ihrem Kind überhaupt oder lange die Brust zu geben, sich dafür rechtfertigen müssen.

Wissenschaftler und Wickeltische. Im Kampf um die Lufthoheit über den Wickeltischen bekommt diese Einstellung derzeit auch von der Wissenschaft Aufwind. Britische Forscher haben jetzt die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation für eine Stillzeit von mindestens sechs Monaten infrage gestellt. Zumindest in den Industriestaaten sollten Babys ab dem vierten Monat neben der Muttermilch auch Beikost erhalten, erklären die Fachleute vom University College London in einem Artikel im „British Medical Journal“. Als Begründung geben sie an, dass Babys, die länger voll gestillt werden, unter Eisenmangel und Allergien leiden können.

Wie ist das mit der Allergieprävention? Diese Ansicht läuft einem der wichtigsten Argumente pro Muttermilch zuwider: dass der größte Vorteil des Stillens genau diese optimale Versorgung mit Nährstoffen und ein maximaler Schutz gegen Allergien sei. Dafür trifft sie sich mit dem einen oder anderen Riss im „Glassturz-Prinzip“ der frühkindlichen Ernährung. Galt bis vor Kurzem noch die Regel, dass frühestens ab dem vollendeten 6. Monat zugefüttert werden dürfe, um Allergien zu vermeiden, sprechen etwa die neuen Beikostempfehlungen des österreichischen Gesundheitsministeriums eine andere Sprache: Ab der 17. Woche gibt es grünes Licht. Das Primat der Karotte wird aufgehoben, die Lebensmittel können in beliebiger Reihenfolge auftreten, nur schrittweise sollte es gehen. Sogar Fisch ist im ersten Lebensjahr neuerdings erlaubt. Natürlich muss es nicht gleich Thunfisch oder Schwertfisch sein. Aber offenbar auch nicht immer Muttermilch. Nur Muttermilch.

Die österreichischen Beikostempfehlungen wurden gemeinsam vom Gesundheitsministerium, dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und der Agentur für Ernährung und Sicherheit erstellt.

Stillen bzw. Säuglingsanfangsnahrung werden für die ersten Lebensmonate angeraten, zwischen der 17. und der 26. Woche soll mit Beikost begonnen werden. Eine falsche Reihenfolge gibt es nicht, wichtig ist das Schritt-für-Schritt-Prinzip. http://richtigessenvonanfangan.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2011)

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