"Hubschraubereltern": Das rundum überwachte Kind

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Immer mehr Mütter und Väter liebäugeln auch in Europa mit dem US-Trend der elektronischen Überwachung, um dem Nachwuchs auf der Spur zu bleiben. Keine gute Idee, warnen Psychologen.

Europas Eltern treibt die Angst um. Vor allem die urbane Mittelklasse, die sich nicht mehr viele Kinder leistet, für diese aber nur das Beste will, schränkt aus lauter Sorge um das Wohlergehen des Nachwuchses immer mehr Freiräume ein. Während in grundlegenden Erziehungsfragen oft ein regelrechter „Mummy War“ tobt, herrscht bei einem Thema seltene Einigkeit: Sicherheit geht vor – und sie soll möglichst absolut sein. Mit drastischen Konsequenzen, vor allem für Stadtkinder: Sind sie unter zehn Jahren, werden sie selten allein aus dem Haus gelassen, der Volksschulweg wird oft bis zur vierten Klasse gemeinsam absolviert, erst ab der frühen Pubertät wird die Rund-um-die-Uhr-Präsenz von Erwachsenen gelockert. Im Gegenzug erwarten viele Eltern allerdings, dass ihre Kinder jederzeit auffindbar sind. Am leichtesten geht das per Handy.

In den USA hat sich um diese Angst der sogenannten „Hubschraubereltern“ bereits eine Überwachungsindustrie entwickelt, die auch in Europa zunehmend auf Interesse stößt. Diverse Gadgets ermöglichen es Eltern, ihr Kind mit technischer Hilfe zu überwachen, wenn es unterwegs ist. Dabei helfen vor allem GPS-Sender, die mittlerweile beinahe überall eingebaut werden. Im Internet finden sich schnell unverdächtig wirkende Armbanduhren, Schlüsselanhänger, Schmuck- und Kleidungsstücke. Das Prinzip ist einfach: Der Sender zeichnet die Koordinaten des Trägers auf und übermittelt sie an die Eltern.

Das funktioniert übrigens längst auch mit Handys. Vor allem Smartphones mit dem Betriebssystem Android oder iPhones eignen sich zur unauffälligen Überwachung. Am iPhone dient die entsprechende Funktion eigentlich dem Auffinden des Geräts, wenn es verloren gegangen ist oder gestohlen wurde. Damit lässt sich selbstverständlich aber auch der Aufenthaltsort des Nutzers ermitteln. Um die Funktion zu aktivieren, muss lediglich die kostenlose App „iPhone-Suche“ installiert und aktiviert werden.

Mit Android können Kinder sogar auf Schritt und Tritt in Google Maps verfolgt werden. Dafür sorgt der Google-Dienst „Latitude“, eine Art Social Network. Nutzer des Dienstes können den Aufenthaltsort ihres Handys in Google Maps für Freunde freigeben. Besorgte Eltern müssen Latitude also nur unbemerkt auf dem Gerät ihrer Kinder aktivieren – das Programm läuft dann einfach im Hintergrund. Unangenehm könnte es allerdings werden, wenn der überwachte Nachwuchs dem Trick auf die Schliche kommt.

Im Unterschied zu Handys bieten dezidierte Kinderüberwachungsgeräte wie die GPS-Uhr Num8 aber erweiterte Funktionen, die beinahe an elektronische Fußfesseln erinnern. Bewegt sich der Träger aus einer vorher festgelegten „Sicherheitszone“ hinaus, wird auf dem Überwachungsgerät – einem Handy oder einem PC – Alarm geschlagen.

Kontrolle schädigt Selbstvertrauen. Psychologen warnen eindringlich davor, dass nicht alles, was technisch machbar ist, auch sinnvoll ist. „Wenn man Kindern permanent signalisiert, dass man sie schützen muss, zeigt man ihnen auch, dass die Welt nicht allein bewältigbar ist. Und das ist fatal“, sagt die Psychologin und Pädagogin Aloisia Hollerer. Kindern würde dadurch die Möglichkeit genommen, ein ihrem Alter gemäßes Selbstvertrauen und Eigenverantwortung zu entwickeln.

Immer mehr Kinder und Jugendliche reagieren auf die zunehmende Beschränkung ihrer Freiräume mit der Flucht in eine virtuelle Welt, in die ihnen viele Eltern oft aufgrund ihrer „medialen Inkompetenz“ (Philipp Ikrath vom „Institut für Jugendkultur“, siehe Interview) nicht mehr folgen können. Eine Umfrage der Europäischen Union ergab, dass sich mittlerweile 75Prozent aller Sechs- bis 17-Jährigen regelmäßig im Internet tummeln. Der Anteil reicht dabei von 94 Prozent in Finnland bis zu 45 Prozent in Italien. Österreich liegt mit 77Prozent im Mittelfeld. Laut Aloisia Hollerer haben immerhin zwei Prozent aller Sechsjährigen unbeschränkten Zugang zum Internet – für sie eine „absolute Vernachlässigung der Erziehungspflicht“.

Die EU, die auf diese Entwicklung bis 2013 mit einer Investition von 55Millionen Euro in die Internetsicherheit reagieren will, erhob auch, wie sehr Europas Eltern den Teufel fürchten, den sie nicht kennen. 60 Prozent sorgen sich, dass ihre Kinder Opfer von „Online-Grooming“ werden könnten, bei dem sich eine Person mit einem Kind oder Jugendlichen in der Absicht des sexuellen Missbrauchs anfreundet, 54 Prozent haben Angst vor Mobbing im Netz. Fälle wie der eines 13-jährigen Kärntners, der sich vergangenes Jahr umgebracht hat, nachdem er via Facebook gemobbt worden ist, schüren diese Angst noch mehr.

Um ihren Kindern auch im Internet auf der Spur zu bleiben, greifen viele Eltern auf spezielle Programme zurück. Diese werden meist von etablierten Herstellern von Sicherheitssoftware angeboten. Fast alle versprechen Schutz vor unangemessenen Webseiten und E-Mails, lassen Eltern zusätzliche Filter einrichten und bieten meist die Möglichkeit, Chats nachzulesen oder Protokolle von Suchanfragen anzufertigen.

Der Software-Anbieter Norton etwa lässt mit seinem „Online Family“-Programm gleich mehrere Kinder überwachen. Für jedes kann ein bestimmter Zeitrahmen festgelegt werden, in dem das Internet genutzt werden darf. Für die Kleinsten können auf Wunsch nur ganz bestimmte Webseiten freigeschaltet werden, und Eltern können sich von dem Programm benachrichtigen lassen, wenn bestimmte Begriffe gegoogelt werden.

Schlauer als die Eltern. Hundertprozentig verlassen sollte man sich aber nicht auf den Schutz durch solche Software-Angebote. Die EU hat im Jänner 26 Programme testen lassen und ist zu einem ernüchternden Urteil gekommen: Mit modernen Herausforderungen im Netz kann keines davon umgehen. Die Rede ist von Echtzeitkommunikation in Social Networks wie Facebook oder SchülerVZ. Bei keinem der getesteten Programme funktionierten die Filter in diesen Netzwerken. Sperren ließe sich der Zugang zu ihnen zwar mit den meisten Programmen – viele Kids sind aber längst firm genug, solche Blockaden zu umgehen.

Trotz des schlechten Zeugnisses kann es in den meisten Fällen dennoch nicht schaden, Sicherheitsprogramme zu verwenden – ein Mindestmaß an Kontrolle bieten die meisten von ihnen. Die EU hat die Ergebnisse ihres Tests in eine Datenbank einfließen lassen, die alle sechs Monate aktualisiert werden soll. Eltern können dieses Verzeichnis nach bestimmten Kriterien – etwa dem Alter der Kinder – durchsuchen, um das passende Programm zu finden (http:// www.yprt.eu/sip/).

Spezielle Personensuchmaschinen können zudem helfen, ein Auge auf die Web-2.0-Aktivitäten des Kindes zu haben. Anbieter wie Yasni oder 123People sammeln alle zu einem Personennamen im Internet öffentlich verfügbaren Informationen. Hier kann überprüft werden, wie viel Kinder zum Beispiel auf Facebook öffentlich über sich preisgeben. Oft ist das den Kids selbst gar nicht bewusst, da die Privatsphäre-Einstellungen oft kompliziert und undurchsichtig sind.

Totaler Schutz ist Illusion. Mit einem müssen sich Eltern allerdings abfinden, sagt Aloisia Hollerer: „Es ist eine Illusion zu glauben, dass man Kinder vor allem und jedem behüten und beschützen kann.“ Je eher man zu diesem Schluss komme, umso größer sei der Gefallen, den man seinen Kindern (und sich selbst) tue. Ortung und Überwachung von Kindern und Jugendlichen erinnere zu sehr „an Intensivstation oder Sicherheitsdienst“: „Damit wird permanent die niederschwellige Botschaft gesendet: ,Ich vertraue dir nicht.‘“

(c) Die Presse / JV

Die alternative Empfehlung – und da sind sich Kinderpsychologen selten einig – ist, den aufwendigen Weg zu gehen und selbst bei den schwierigsten Themen Kontakt mit den Kindern zu halten – „auch in dem Alter, in dem Kinder so herrlich ruhig zwei Stunden vor dem Computer sitzen“. „Eltern, die mit Kindern immer wieder über ihre Erweiterungsbedürfnisse gesprochen, das zugelassen und ihnen stückweise Vertrauen geschenkt haben, werden auch viel von dem erfahren, was die Kinder im Netz tun.“ Denn Kinder seien durchaus bereit zu sagen, was ihnen Spaß und was ihnen Sorgen macht. Allerdings unter einer Bedingung: dass die Eltern nicht ganz in ihre Welt eindringen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2011)

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