Die Angst der Mitte vor der (öffentlichen) Schule

Angst Mitte oeffentlichen Schule
Angst Mitte oeffentlichen Schule(c) Clemens Fabry
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Das einzige, was die Mittelschicht ihren Kindern vererben kann, ist Bildung – deshalb sind die Eltern im Schulstreit auch so nervös. Die politische Botschaft muss sich ändern, sagt der Soziologe Heinz Bude.

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Die Presse: In Österreich wird erbittert über die Gesamtschule diskutiert. Man hat den Eindruck, dass der Kampf um Statusbewahrung immer schärfer wird. Können Sie das bestätigen?

Heinz Bude: Das ist ein Effekt der Nachkriegsentwicklung: Wir hatten nach dem zweiten Weltkrieg eine Phase, in der die Mitte der Gesellschaft immer breiter wurde. Diese Mitte will ihren Sozialstatus jetzt reproduzieren – und zwar über das Bildungssystem.


Was ist die Konsequenz daraus?

Vor allem für jene, die in ihrer Lebensgeschichte an Status gewonnen haben – zum Beispiel als Bildungsaufsteiger – ist es völlig inakzeptabel, dass ihre Kinder einen niedrigeren Bildungsabschluss haben als sie selbst. Das heißt, diese Menschen sind besonders sensibel, ob die Milieus, in die sie ihre Kinder in der Schule schicken, für diese förderlich sind – oder nicht.


Gibt es eine Gruppe von Eltern, auf die das besonders zutrifft?


Deutlich gezeigt hat sich das beim Schulstreit in Hamburg, wo es um die Einführung der sechsjährigen Primarschule ging. Die Grünen haben diese Reform protegiert – aber viele ihrer Wähler haben still und heimlich die Gegeninitiative unterschrieben. Das ist ein Klientel, das relativ privilegiert ist, was Bildung, Einkommen und Sozialstatus betrifft. Aber viele von ihnen haben Jobs mit prekärem Charakter: Medien, kreative Selbstständigkeit etc. Für diese Eltern gibt es ein Grundmotiv: Sie wollen ihren Kindern etwas vererben. Aber sie haben kein großes Haus, keine Firma, keinen großen Einfluss in der Gesellschaft.


Was können sie denn vererben?

Sie können Bildung vererben. Und deshalb werden sie alles tun, damit dieses Erbe nicht gemindert wird.


Daher kommt also die Verunsicherung, wenn es um die Gesamtschule geht.


Ja. Es gibt eine grassierende sozialmoralische Ansteckungsangst. Die Vorstellung, ihre Kinder in eine Schule zu schicken, in der sie mit Kindern in Kontakt kommen, deren Familien nicht so viel Wert auf Bildung legen, macht diese Eltern nervös.

Das klingt sehr hart. Haben diese Eltern völlig unrecht mit ihren Sorgen?

Nein. Natürlich kann man das verstehen. Und es ist auch absolut legitim, dass Eltern das Beste für ihr Kind wollen. Sie sind aber nicht locker. Sie sagen nicht: Ach, das wird mein Kind schon nicht tangieren.


Andererseits ist unser Bildungssystem offenbar nicht in der Lage, Chancengleichheit herzustellen. Warum nicht?

Soziale Ungleichheit gibt es natürlich überall. Das Problem: In Österreich wie auch in Deutschland wird diese durch das Bildungssystem eher verstärkt – und nicht gemindert. Dass man über das Bildungssystem gleiche Startchancen für alle herstellen kann, ist soziologisch gesehen natürlich eine Illusion. Man kann Ungleichheit nur mindern – und sie durch das Versprechen, mittels eigener Anstrengung nach oben kommen zu können, erträglich machen.

Brauchen wir eine Gesamtschule, um mehr Gerechtigkeit herzustellen?

Langfristig werden wir überall Gesamtschulstrukturen haben. Allein deshalb, weil das Gymnasium bei einer Maturaquote von nahezu 50 – in einzelnen Wiener Bezirken bis zu 70 Prozent – längst den Exklusivitätscharakter verloren hat. Der grundsätzliche Fehler ist aber, dass eine Strukturdebatte geführt wird. Auch in einem mehrgliedrigen System – mit Hauptschulen und Gymnasien – kann man inklusive Bildungspolitik machen. Wenn man das Verhalten im System ändert.


Wichtiger als das, was draufsteht, ist also das, was in der Schule passiert.


Es gibt Untersuchungen über gute Hauptschulen. Der zentrale Punkt: Dort gibt es eine Atmosphäre der Akzeptanz. Dort hat man von Defizit- zu einer Differenzpädagogik umgeschaltet, bei der Schüler in dem bestärkt werden, was sie können – und nicht nur dafür kritisiert werden, was sie nicht können. Das ist der entscheidende Schwung.


Die Frage, wer mit wem in die Schule geht, bleibt ungelöst – aber Schule soll ja auch Ort der Sozialisierung sein.

Wir haben eine Separierung der sozialen Milieus, die sich über das Bildungssystem stabilisiert. Weil Eltern den Eindruck gewinnen, dass das öffentliche System ihrem Streben nach Statuserhalt nicht mehr entgegenkommt. Denn die politische Botschaft klingt so: Wir tun vor allem etwas für die Bildungsverlierer – für die anderen brauchen wir nichts zu tun, die haben ohnehin bessere Ausgangsvoraussetzungen.


Muss man daher fürchten, dass Eltern aus dem öffentlichen System flüchten?


Das öffentliche Schulsystem muss wahnsinnig aufpassen, dass es für bestimmte Fraktionen unserer Gesellschaft nicht als das System des Rests erscheint. In Deutschland finanzieren viele Großeltern wahnwitzige Bildungsinvestitionen für die Enkel, wir haben ein wachsendes System privater Zusatzbeschulung. Das öffentliche System muss eine ernsthafte Variante bleiben. Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, es sei die schlechtere.


Was tun?

Man muss die Mitte inkludieren, so komisch das klingt. Man muss diesen Eltern eigentlich sagen: Wir tun etwas für eure Kinder – aber wir müssen eben auch noch für ein paar andere was tun.


Was würden Sie den Eltern raten?


Setzen Sie sich doch einmal abends ganz in Ruhe hin und überlegen Sie ernsthaft, was Sie glauben, dass Ihr Kind können muss. Sie werden auf sehr einfache Dinge kommen. Und fragen Sie sich, ob das nicht genauso in einem System zu erreichen ist, wo Ihre Tochter auch mit Ivana zu tun hat, deren Vater vor fünf Jahren aus Bulgarien gekommen ist.

Heinz Bude

Bildungspanik Was unsere Gesellschaft spaltet

Hanser Verlag 2011, 144 Seiten, 15,40 €
Heinz Bude (58) ist ein deutscher Soziologe. Er lehrt als Professor für Makrosoziologie an der Uni Kassel und arbeitet zudem am Hamburger Institut für Sozialforschung. Auf Einladung von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ) war Bude vergangene Woche zu Gast in Wien. Zuletzt erschien sein Buch „Bildungspanik“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2012)

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