"Ein gutes Schulsystem verstärkt Ungleichheit"

Joerg Draeger gutes Schulsystem
Joerg Draeger gutes Schulsystem(c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Bildungsexperte Jörg Dräger fordert die Streichung der Familienbeihilfe für reiche Eltern, spricht über den nicht nachweisbaren Effekt der Gesamtschule - und erklärt, warum Krippen wichtiger sind als Schulen.

Die Presse: Wagen Sie mit mir ein Gedankenexperiment. Wenn Sie Migrant wären und aus einer niedrigen sozialen Schicht kämen: In welchem Land würden Sie zur Schule gehen wollen?

Jörg Dräger: Dann würde ich gern in Kanada zur Schule gehen. Die schaffen es, Bildungserfolg von Zuwanderungsgeschichte zu entkoppeln. Kinder von Migranten sind dort fast genauso erfolgreich wie die anderen.

Wie würden Sie Ihre Chancen in Österreich oder Deutschland einschätzen?

Leider viel schlechter. In Deutschland liegt man als 15-Jähriger mit Migrationshintergrund, was den Wissensstand betrifft, ein Jahr hinter anderen Schülern, in Österreich sogar deutlich über ein Jahr.

Was machen diese Länder schlechter?

Sie bekennen sich nicht so wie Kanada zur Unterschiedlichkeit. Im Bildungssystem beispielsweise individualisieren sie zu wenig, gehen nicht genügend auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und Lerntypen ein. Und die Kinder verbringen zu wenig Zeit in der Schule: Ohne Ganztagsschulen, in der über den ganzen Tag verteilt gelernt wird, fehlt einfach die nötige Zeit für individuelle Förderung.

Ein Großteil der Bildungsexperten hätte nun gesagt, dass die Chancengleichheit von der Einführung einer Gesamtschule abhängt. Sie nicht?

Die Schulstruktur hat einen sehr geringen Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder. Gute Schule ist guter Unterricht, und das hat etwas mit guten Lehrern zu tun. Die Diskussion über die Schulstruktur ist vor allem ideologisch geprägt, am Kern eines guten Bildungssystems geht sie vorbei.

Zurück zur Ganztagsschule: Viele Eltern wehren sich gegen diese. Müssen sie Zugeständnisse im Interesse einer Chancengerechtigkeit für alle machen?

Die Ganztagsschule hat positive Effekte, sie wird auch bei uns kommen. Deutschland und Österreich sind mit die letzten entwickelten Länder, in denen die Ganztagsschule nicht Standard ist. Das entbindet übrigens die Eltern nicht von der Erziehung: Auch in einer Ganztagsschule verbringt ein Kind 80 Prozent der wachen Zeit in Familie und Freundeskreis.

Sollte man Eltern zwingen, ihr Kind in die Ganztagsschule zu schicken?

Nein. So etwas sollte man nicht per Gesetz regeln. Was wir brauchen, ist ein Rechtsanspruch auf den Besuch von Ganztagsschulen: Jeder sollte die Möglichkeit haben, seine Kinder in der Nähe des Wohnorts auf eine Ganztagsschule – und dabei meine ich keine reine Nachmittagsbetreuung – schicken zu können. Letztlich müssen die Eltern durch die Qualität des Angebots überzeugt werden.

Wenn der Großteil der Kinder in die Ganztagsschulen geht, dann braucht es auch neue Lösungen für Sportvereine und Musikschulen.

Wir haben eine ausgeprägte Kultur des ehrenamtlichen Engagements und der außerschulischen Bildung. Eine solche Kultur muss erhalten und in die Schule geholt werden.

Sich die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule zu wünschen, ist das eine. Sie zu finanzieren das andere. Wie soll das möglich sein?

Das ist durchaus machbar. Man muss das Geld nur anders verwenden. Sowohl Österreich als auch Deutschland sind Weltmeister der Verteilungsgerechtigkeit. Wir haben üppige Sozialtransfers und geben viel Geld für Maßnahmen aus, deren Nutzen mindestens fraglich ist. Brauchen wir wirklich ein so hohes Kindergeld, ein Betreuungsgeld oder Steuervorteile für kinderlose Ehepaare? Da leisten wir uns einen unglaublichen Luxus und verteilen Geld mit der Gießkanne – an die sozial Starken wie an die sozial Schwachen. Stattdessen sollten wir lieber direkt in Krippenplätze und Ganztagsschulen investieren.

Was in Deutschland das Kindergeld ist, ist in Österreich die Familienbeihilfe. Wäre es sinnvoll, dieses für reichere Eltern zu streichen?

Ein guter Krippenplatz ist eine gesellschaftlich wertvollere Investition als Kindergeld oder die Familienbeihilfe für die, die es nicht unbedingt brauchen.

Sie sprechen stets von Chancengerechtigkeit und nicht von Chancengleichheit. Ist es utopisch, Chancengleichheit zu fordern?

Ja. Eltern, die sich sehr für die Bildung ihres Kindes einsetzen, werden auf jedes staatliche Angebot noch einen drauflegen. Kein Bildungssystem der Welt wird es schaffen, Gleichheit herzustellen. Das wäre sogar kontraproduktiv. Ein gutes Bildungssystem verstärkt die Ungleichheit. Es gleicht zwar soziale Ungleichheit weitgehend aus, fördert und verstärkt aber durchaus die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Kinder.

Welche Rolle spielt die frühkindliche Erziehung in Bezug auf die Chancengerechtigkeit?

Das ist der entscheidende Hebel. Für die Chancengerechtigkeit sind Krippen- und Kindergartenerziehung wichtiger als das Schulsystem.

Warum? Weil man den Kindern schon dort die notwendigen Sprachkenntnisse vermitteln muss?

Nicht nur. Wichtig ist aber auch, die Neugier und Lernbereitschaft der Kinder zu wecken, die zu Hause weniger Anregung erfahren.

Wenn die frühkindliche Erziehung dermaßen entscheiden ist: Ab wann ist es sinnvoll, die Kinder in die

Krippe zu schicken?

Das hängt vom Kind ab, üblicherweise in einem Alter von einem oder eineinhalb Jahren. Es hat erwiesenermaßen einen positiven Effekt, ein Kind noch vor dem dritten Geburtstag in die Krippe zu geben. Bei bildungsfernen Eltern verdoppelt sich dadurch die Chance des Kindes, später einmal auf das Gymnasium zu gehen. Ich warne davor, die Schule nach vorn in den Kindergarten zu verlängern. Im frühkindlichen Alter geht es um spielerisches Lernen. Mit drei Jahren muss kein Kind englischen oder chinesischen Unterricht haben.

Zur Person

Jörg Dräger (44) leitet seit dem Jahr 2008 den Bereich Bildung der Bertelsmann-Stiftung (eine wirtschaftsnahe deutsche Denkfabrik). Außerdem ist Dräger Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), das vor allem für sein Hochschulranking bekannt ist. Von 2001 bis 2008 war Dräger (parteilos) Senator für Wissenschaft und Forschung in Hamburg. Im Jahr 2011 widmete er sich in einem Buch dem deutschen Schulsystem. Der Titel: „Dichter, Denker, Schulversager: Gute Schulen sind machbar – Wege aus der Bildungskrise“. Damit wollte er eine politische Gebrauchsanweisung für die Verbesserung des Schulsystems liefern. Dräger ist promovierter Physiker und absolvierte seinen Ph.D. in den USA. Nach seinem Studium war er als Unternehmensberater tätig. Dräger hat zwei Kinder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2012)

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