"Eltern wollen Noten, weil sie auf eine Illusion vertrauen"

Eltern wollen Noten weil
Eltern wollen Noten weil(c) APA (Harald Schneider)
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Schulnoten halten nicht, was sie versprechen, sagt der Pädagoge Hans Brügelmann. Sie seien weder objektiv, noch vergleichbar. Wichtiger als Noten: Schüler sollten lernen, sich selbst einzuschätzen.

Hunderttausende Schüler haben dieser Tage ihre Schulnachrichten bekommen. Wie valide sind Noten eigentlich?
Hans Brügelmann: Wir wissen seit vielen Jahren dass Noten weder besonders objektiv sind noch die oft angeführte Vergleichbarkeit bieten. Sie suggerieren das, weil sie als Zahl technisch sauber erscheinen. Aber sie verdecken die dahinterstehenden subjektiven Elemente – den Lehrer etwa, und die Rahmenbedingungen, zum Beispiel das Leistungsniveau der jeweiligen Klasse. Und das ist gefährlich. Denn man hört immer wieder, dass sich Eltern oder auch Schüler Noten wünschen. Sie wollen das, weil sie auf eine Illusion vertrauen.

Noten halten nicht das, was sie versprechen?
Richtig. Ich verstehe, dass Eltern sich Anhaltspunkte wünschen, etwa wenn es um den weiteren Bildungsweg des Kindes geht. Dann muss eine Lehrerin aber auch konkret sagen können: Vom Fachlichen her kann Ihre Tochter das Gymnasium durchaus schaffen, aber sie hat Probleme damit, sich selbst zu organisieren.

Man muss Leistungsbeschreibung differenzieren.
Ja. Eine Drei kann ganz verschiedene Dinge bedeuten: Bei dem einen: Er schreibt tolle Aufsätze, aber die Rechtschreibung ist miserabel. Beim anderen: Grammatikalisch ist alles korrekt, aber beim Lesen hat er Probleme. Beim dritten kann es heißen: Er ist ein sprachbegabtes Kind, aber einfach faul. Und das vierte ist vielleicht ein Migrantenkind, das eine andere Muttersprache hat, sich aber überdurchschnittlich gut entwickelt. Eine Note aber schnürt all das auf eine Zahl zusammen.

Sie haben das Gymnasium angesprochen: Was macht die abnehmende Institution ohne Noten?
Es wird ja angenommen, dass Noten eine verlässliche Vorhersage erlauben, weil sie sozusagen das Potenzial für die weitere Entwicklung erfassen. Aber auch das stimmt nicht: Die Zusammenhänge zwischen Noten und späterer Schulleistung oder gar beruflichem Erfolg und Lebensleistung sind sehr locker. Man muss aber eines vorschalten: Wozu brauchen wir überhaupt diese Rückmeldungen über Leistung?

Auch, um eine Auswahl zu treffen.
Stimmt. Ein System, das ausleseorientiert ist, in dem Schüler wie bei uns nach der vierten Klasse aufgeteilt werden, braucht Noten. Aber eines, das eher förderorientiert ist, braucht differenzierte Beschreibungen von Stärken und Schwächen, damit man die Förderung genauer justieren kann. In vielen anderen Ländern werden Schüler nicht nach der vierten Klasse aufgeteilt – und dort braucht man auch viel länger keine Noten.

Ein Argument für Noten ist immer wieder die Leistungsgesellschaft: Im echten Leben werde auch laufend bewerten und beurteilt.
Da habe ich einen etwas platten Einwand: Wenn man davon absieht, dass demnächst die Lebensmittel ausgehen, würde man Kinder auch nicht hungern lassen, sondern ihnen möglichst viel zu essen geben, damit sie hinterher überleben. In der Leistungsgesellschaft geht es darum, dass Personen bestimmte Funktionen spezialisiert ausüben. Hier brauchen wir Selektion. Aber das darf nicht determinieren, wie wir Förderung in der allgemeinbildenden Schule organisieren.

Andere halten dagegen, dass Noten auch motivierende Effekte haben.
Kurzfristig gesehen kann das sicher stimmen. Aber ich spreche vom Radarkasten-Effekt: Man geht vor dem Kasten mit dem Tempo runter – und danach drückt man wieder aufs Gas. In der Schule pauken die Schüler sich vor einem Test den Stoff rein. Wenn sie den Test drei Wochen später nochmal schreiben würden, was klugerweise kein Lehrer macht, würde man feststellen, dass schon kaum mehr was da ist. Noten sind sogar noch problematisch für die Motivation.

Inwiefern?
Für das untere Drittel der Schüler, das von vorneherein weiß, dass es eine schlechte Note bekommt, lösen Noten allenfalls Angst aus. Dann gibt es die leistungsstarken Schüler, die merken: Man muss sich gar nicht anstrengen, um eine gute Note zu kriegen. Das ist fatal für die spätere Motivation. Und die Misserfolgsorientierten haben zwar sehr gute Leistungen, aber ständig Angst, dass sie schlechter werden. Wirkungsvoller als Motivation von außen ist eine Förderung von Interessen.

Das klingt ein bisschen nach der viel kritisierten Kuschelpädagogik.
Das tut ja so, als ob keine Leistung mehr verlangt würde. Ich sehe das anders. Die Aufgabe der Schule ist, jeden einzelnen so zu fördern, dass er bis ans Optimum seiner Leistungsmöglichkeiten geht. Es hat aber keinen Sinn, alle über dieselben Hürden springen zu lassen. Sinnvoll ist, jedem das für ihn nächste Ziel zu setzen – im Hinblick auf die Standards, auf die wir alle hin fördern wollen.

Wenn es keine Noten geben soll, was dann?
Jedenfalls eine intensivere dialogische Feedbackkultur. Was sich immer stärker durchsetzt ist, dass sich Lehrer, Schüler und Eltern zusammensetzen, analog zum Mitarbeitergespräch in der Wirtschaft. Wo etwa auch der Schüler selbst ein Portfolio vorlegt. Dann sagt der Lehrer, was er dazu denkt, dann die Eltern. Und so erfolgt auch die Rückmeldung während des Jahres.

Wie kann das für jüngere Schüler aussehen?

Es gibt schon für die erste Klasse sehr einfache Kompetenzraster, wo zehn Ziele beschrieben sind und Schüler mit Smilies signalisieren: Das kann ich gut, das nicht so sehr. Daneben macht die Lehrerin ihre Kreuze. Das Fatale in vielen Klassen ist ja: Die Schüler kommen mit jedem Arbeitsblatt nach vorne und fragen die Lehrerin: Ist das richtig? Dabei sollten sie doch eigentlich lernen, sich selbst zutreffend einzuschätzen.

Zur Person

Hans Brügelmann (*1946) ist ein deutscher Grundschulpädagoge und Schriftsprachdidaktiker. Ab 1993 war er Professor für Grundschulpädagogik und -didaktik an die Universität Siegen, seit dem Vorjahr ist er emeritiert. Brügelmann verantwortet das Fachreferat Qualitätsentwicklung im Grundschulverband und das Heft GrundschulEltern. Für den Verband hat er u.a. eine Expertise zum Thema Schulnoten verfasst.

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