Einmal scheitern (und wieder aufstehen), so richtig mit dem größten Rivalen streiten oder erleben, dass man in etwas wirklich ganz besonders gut ist: Was die Schule unsere Kinder fürs Leben lehren kann und soll.
Es ist eine Frage, über die allzu gerne diskutiert wird: Was muss die Schule können, was muss sie leisten? Was müssen unsere Kinder beherrschen, was müssen sie wissen, was sollten sie kennen? Während sich die Debatte politisch stets darum dreht, wie die Schule denn organisiert sein muss – Gesamtschule, Gymnasium, oder überhaupt etwas ganz anderes? – stellt sich für Eltern eigentlich die Frage, was es denn überhaupt ist, was die Schule – oder, breiter gefasst: die Schulzeit – leisten soll.
Dann zumal, wenn der Pflichtteil absolviert ist, nach neun Jahren. Dann, wenn Jugendliche langsam zu jungen Erwachsenen werden. Dass die Kernaufgabe der Schule die Vermittlung gewisser Kulturtechniken ist, die eines gewissen Bildungskanons, steht außer Zweifel. Und dennoch: Um auch im Leben zu bestehen, braucht es viel mehr. Ein Teil davon kann (oder sollte) aus der Schule mitgenommen werden.
Die „Presse am Sonntag“ hat 25 Persönlichkeiten – Eltern, Pädagogen und Experten, Künstler, Wissenschaftler und natürlich auch Schüler – gefragt, was ein Schüler nach neun Jahren Schule, bis zum Alter von 15, zumindest einmal erlebt haben soll, was er oder sie erfahren oder gelernt haben soll. Und nähert sich damit an die Frage an, was denn die Schule unsere Kinder fürs Leben lehren soll.
Sich für eine Aufgabe zusammentun
Klar, Lesen, Schreiben oder Rechnen sind zwar ganz wichtig. Ein glücklicher Mensch wird man aber nur, wenn man auch die Erfahrung gemacht hat, dass man auch andere Menschen braucht. Dass sich manche Aufgaben überhaupt nur in einem Team lösen lassen. Dass man Konflikte oft nur beilegen kann, wenn sich alle zusammentun. Sozialkompetenz ist so ein trockenes, unschönes Wort – es geht um die Fähigkeit, sich als Mensch in der Gemeinschaft zu verstehen. Das sollte jedes Kind gelernt haben, wenn es die Schule verlässt.
Heidi Schrodt, Direktorin a. D. und Vorsitzende von BildungGrenzenlos
Einem Forscher eine Frage stellen
Jedes Kind sollte einem Wissenschafter schon einmal eine Frage gestellt haben. Was erst als simple Aufgabe erscheint, kann sich später gleich auf mehrfache Art und Weise als sinnvoll erweisen. So lässt sich die Scheu vor der Universität wohl am besten verlieren. Die extreme Ehrfurcht, die Kinder verstummen lässt, weicht einer aufgeweckten Neugierde. Kinder interessieren sich eben am meisten für die Fragen, die sie selbst stellen. Wer im Dialog mit dem Forscher zusätzlich lernt, dessen Antworten kritisch zu hinterfragen, hat einen weiteren wichtigen Schritt für die eigene Bildung gesetzt. Fast nebenbei können Wissenschafter Kinder nämlich auch auf neue Interessens- und Berufsfelder aufmerksam machen.
Julia Frischauf, Volksschullehrerin
Einmal ein barockes Sonett verfassen
Jeder Schüler sollte einmal ein barockes Sonett geschrieben haben, am besten eines wie der deutsche Barockdichter Andreas Gryphius. Nicht, weil jeder Schüler zum Dichter ausgebildet werden soll, das wäre ja absurd. Aber die Form des Sonetts ist so streng und so dialektisch, dass man sich dabei sehr viele Gedanken über Sprache und über Rhetorik machen muss – und unglaublich viel darüber lernt. Abgesehen davon muss man, um ein Sonett zu schreiben, natürlich auch manchmal eines lesen.
Michael Köhlmeier, Schriftsteller
Ein Buch lesen
Jeder Schüler sollte zumindest einmal ein Buch von Anfang bis Ende lesen. Und das auch als etwas Schönes erleben.
Christine Nöstlinger, Autorin
Scheitern – und wieder aufstehen
Zumindest einmal in seiner Schullaufbahn sollte man eine Klasse wiederholt haben. Das hat einen einfachen Grund: Umwege erweitern die Ortskenntnis. Natürlich ist es in der Situation deprimierend, denn man verliert seine Freunde in der Klasse und muss den gesamten Jahresstoff noch einmal durchmachen. Aber in der Rückschau wird man feststellen, dass man sich als Persönlichkeit in diesem einen Jahr wirklich weiterentwickelt hat. Denn erstens machen Niederlagen uns stark, und zweitens haben Menschen, die nur nach vorne schauen, ihre Augen nicht wirklich offen. Links und rechts des Weges liegt das Paradies – und wenn man nur geradeaus blickt, läuft man Gefahr, es zu verpassen.
Jan-Uwe Rogge, deutscher Familienberater, blieb selbst einmal sitzen.
Eine Rechenaufgabe durch Schätzen lösen
Schätzen muss man können. Dafür muss man zwar nur die Grundrechnungsarten beherrschen, die muss man dafür aber wirklich einsetzen können. Der große Physiker Enrico Fermi hat seine Studenten etwa einmal gefragt, wie viele Klavierstimmer es in Chicago gibt. Das kann man abschätzen: Wie viele Menschen leben in der Stadt, wie viele Familien, wie viele davon haben ein Klavier, wie oft muss das gestimmt werden? Das ist klassisch mathematisch, aber viel interessanter als Rechnen. Denn Rechnen kann ein Computer, schätzen können nur Menschen. Und übrigens lernt man dabei auch kritisches Denken, statt alles zu glauben.
Rudolf Taschner, Mathematiker
Den Schweinehund überwinden
Eines ist essenziell: Schüler müssen lernen, ihre eigene Leistung korrekt einzuschätzen. Derzeit gelingt ihnen das nur ungenügend. Internationale Vergleichsstudien zeigen, dass Österreichs Schüler unter 14 untersuchten Ländern zwar am schlechtesten lesen, knapp die Hälfte von ihnen glaubt aber gut lesen zu können. Dabei kann sich nur jemand, der die eigene Leistung richtig einstuft, adäquate Ziele setzen. Genau solche braucht es, um den inneren Schweinehund zu überwinden. Und nur wer es schafft, sich anzustrengen, hat Freude an der eigenen Leistung.
Eckehard Quin, Lehrervertreter
Eine Veranstaltung selbst organisieren
Schule sollte den Lernprozess in die Hände der Schüler legen. Sie müssen in ihrer Schulzeit lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen und erfahren, dass sie für ihren Fortschritt selbst verantwortlich sind. Schüler sollen in ihrer Laufbahn erkannt haben, dass sie nicht Opfer des Systems sind, sondern ihr Leben tatsächlich selber schreiben – sie sind die Autoren ihrer Biografien. Am besten lernen Jugendliche diese Dinge, wenn man ihnen große Verantwortung überträgt. Schüler mit der Organisation einer Schulveranstaltung zu betreuen ist also durchaus sinnvoll. Punkt eins: Sie lernen sich selbst zu organisieren. Punkt zwei: Schulveranstaltungen sind nach außen hin sichtbar. Das erhöht einerseits den Kontrollmechanismus und andererseits die Neugier und Motivation der Schüler.
Günter Schmid, Gründungsdirektor der Sir-Karl-Popper-Schule
Seinen Rivalen beschimpfen
Auseinandersetzungen sollten ruhig einmal etwas heftiger geführt werden. Zwei Rivalen dürfen und sollten sich sogar einmal wüst beschimpft oder sich körperlich gemessen haben. Manchmal braucht es die Eskalation, um dann verdutzt zu erkennen, dass der lang angefeindete Klassenkollege ganz ähnlich tickt. Rivalen, die um die besseren Noten und um den größeren Freundeskreis in der Klasse rittern, können so zu besten Freunden werden.
Mathilde Zeman, Schulpsychologin
Einmal richtig schummeln
Schummeln war in meinem Unterricht nicht verboten, sondern ausdrücklich erwünscht. Deshalb: Jeder sollte einmal geschummelt haben. Schummeln ist nämlich eine hochintelligente Leistung. Ich habe die Schüler sogar in meinen Unterrichtsstunden dazu aufgefordert, Schummelzettel zu schreiben. Zuerst sollten sich die Schüler Gedanken darüber machen, was ich – also ihre Chemielehrerin – wohl einige Tage später beim Chemietest fragen würde. Sobald sie sich das überlegt hatten, durften sie auf einem fünf mal fünf Zentimeter großen Zettel all die Dinge notieren, die sie zur Beantwortung der Fragen zu benötigen glaubten. Diesen kleinen Zettel habe ich mir angesehen und meine Unterschrift draufgesetzt. Beim Test durften die Schüler diesen Schummelzettel dann offiziell verwenden. Und wenn er inhaltlich gut war, dann hat es dafür sogar ein Mitarbeitsplus gegeben. Schummeln ist eine gute Strategie: Wer einen guten Schummelzettel gestaltet, der lernt dabei. Insofern ist das nicht verwerflich, sondern sogar nützlich.
Christa Koenne, frühere AHS-Direktorin
Einmal auf einer Bühne stehen
Einmal auf einer Bühne gestanden sein und aktiv an einer Theaterproduktion teilgenommen haben, das sollte jeder Schüler gemacht haben dürfen. Denn Kunst verändert. Nicht nur, weil Schüler sich mit ihren Emotionen, ihrer Nervosität auseinandersetzen müssen, sich besser kennenlernen – und am Ende einer Produktion auf jeden Fall etwas Großes geschafft haben. Sondern auch, weil sich das soziale Klima in den Klassen verändert. Und das kann nachweislich dazu führen, dass auch die Lernleistungen in den klassischen Fächern merkbar besser werden.
Andreas Salcher, Buchautor
Dem Lehrer widersprechen
Ich wünsche mir, dass sich junge Menschen ihren kritischen Geist bewahren. Und nicht alles glauben, was ihnen vorgesetzt wird, selbst wenn es als alternativenlos präsentiert wird. Denn alternativenlos gibt es nicht. Und dazu muss man auch Lehrmeinungen und Lehrermeinungen hinterfragen. Was ich mir wünsche, ist aber mehr als pupertäres Nein-Sagen. Es geht darum, diese Sehnsucht nach fixem Wissen, die wir alle immer wieder verspüren, zu überwinden. Und Spaß daran zu haben, das zu ändern, was einen stört.
Reinhold Popp, Zukunftsforscher
Sich einmal am Weg verirren
Man sollte sich einmal verirrt – und wieder heimgefunden haben. Nein, wir wollen niemanden in Lebensgefahr bringen. Aber ein bisschen gehört es zum Erwachsenwerden dazu: Dass man weiß, wie es sich anfühlt, fremd zu sein. Irgendwo im Wald, in einer unbekannten Stadt, plötzlich gibt es rundherum nichts mehr, an dem man sich orientieren kann. Und man kann nicht damit rechnen, dass hinter der nächsten Ecke Mama oder Papa warten, um einem zu helfen. Mit 14, 15 Jahren schafft man es, aus so einer Situation wieder herauszufinden. Man merkt, dass man Fähigkeiten und Instinkte hat, denen man vertrauen kann. Was verdammt wichtig fürs weitere Leben ist.
Sibylle Hamann, Journalistin
Einen Betrieb von innen sehen
Schüler sollten einmal einen modernen Industriebetrieb von innen gesehen haben. Warum gerade ein moderner und kein Traditionsbetrieb besucht werden sollte, ist schnell erklärt: Sie sollen in die Realität und Vielfalt der Arbeitswelt hineinschnuppern. Schüler sollen sehen, wie heute und auch in Zukunft gearbeitet wird. Das soll Mut machen, abseits von tradierten Rollenbildern und den traditionellen Arbeitsprofilen für sich den richtigen Beruf zu finden. Besonders Mädchen sollen sehen, dass es neben den oftmals in Schulbücher vermittelten Berufen wie Friseurin, Krankenschwester und Verkäuferin auch noch Vieles mehr gibt. Auch Mädchen sollen vermehrt in der Technik und der Forschung Fuß fassen.
Monika Kircher, Vorstandschefin Infineon Technologies Austria AG
Etwas über die NS-Zeit lernen
Viele Lehrer schummeln sich um ein bisschen um das Thema herum. Dabei finde ich es extrem wichtig, dass man sich mit der NS-Zeit beschäftigt. Nicht, damit man weiß, wann der Krieg begonnen hat oder wann er zu Ende war. Jeder Schüler sollte eine Vorstellung davon haben, wie es damals war. Ich lade dafür immer meinen Großvater ein, der meinen Volksschülern von seiner Kindheit damals erzählt. Das ist wirklich beeindruckend.
Markus Hauptmann, Volksschullehrer
Den Bundespräsidenten kennen
Jeder sollte in seiner Schulzeit lernen, wie man das Wort "Bundespräsident" schreibt - und wer das eigentlich ist.
Angi Groß, Bundesschulsprecherin
Seinen eigenen Dreck wegputzen
Den Müll entsorgen, das Geschirr abwaschen und Staubsaugen: Das sind Dinge, die ein Schüler im elterlichen Haushalt gemacht haben sollte. Das wirkt sich nämlich auf das Verhalten in der Schule aus. Wer weiß, wie anstrengend es ist, Dinge sauber zu machen, der macht sie erst gar nicht dreckig – das gilt dann eben auch für die eigene Klasse oder Schule. Außerdem lernen Kinder auf diese Art und Weise, die Tätigkeit anderer Personen wertzuschätzen. Im Idealfall erkennen sie, dass die Arbeit des Reinigungspersonals in der Schule eine sehr wertvolle ist.
Theodor Saverschel, Elternvertreter
Ein fremdes Fest feiern
Jeder Schüler sollte einmal ein Fest gefeiert haben – eines einer anderen Kultur. Und jeder sollte zumindest ein paar Sätze in der Muttersprache seiner Mitschüler gelernt haben. Was ich damit sagen will: Kinder müssen erleben, dass die Welt bunt ist, dass nicht alle Menschen gleich sind und gleich denken, sondern dass sie verschieden sind. Und dass es gerade deshalb gut und schön ist, Dinge miteinander zu machen. Die Schüler sollten sehen, dass man miteinander viel mehr schafft, als wenn man sich gegeneinander aufhetzen lässt.
Waltraud Rashed, NMS-Lehrerin
Ein Aha-Erlebnis haben
Was jeder einmal erlebt haben sollte, ist ein echtes naturwissenschaftliches Aha-Erlebnis. Ganz egal, ob das in Biologie ist, in Physik oder in Chemie. Dass man sich einmal eine Frage stellt, zuerst rät, was herauskommen wird, ein Experiment durchführt – und dann nochmal reflektiert, warum die eigentliche These gestimmt hat, oder warum alles ganz anders gelaufen ist. Diese Form des Erkenntnisgewinns kann man längst nicht nur in den Naturwissenschaften anwenden. Und sie kann auch im Alltag inspirierend sein.
Bernhard Weingartner, Physiker
Einmal einfach super sein dürfen
Jeder Schüler sollte einmal richtig super sein dürfen. Jeder soll merken, dass er Stärken hat – und wie es ist, wenn diese auch ins Zentrum gerückt werden. Das Problem in unserem Schulsystem ist, dass es einige Bereiche gibt – Lesen, Schreiben oder Rechnen beispielsweise, auch Sport ist noch so ein Bereich–, in denen man diese Wertschätzung erfährt, wenn man gut ist. In vielen anderen Feldern ist das aber nicht der Fall. Es ist aber genauso viel wert, wenn jemand gut ist im kreativen Bereich, in der Musik, im Streitschlichten oder im Zuhören.
Daniel Landau, AHS-Lehrer
Freunde finden
Jeder sollte in der Schule Freunde finden. Weil man ohne Freunde fast nichts machen kann. Und weil es einfach lustiger ist.
Arian Abiri, Schüler
Spaß haben
Das machen, was ihm Spaß macht. Denn während der Schulzeit ist alles noch so unbekümmert, wie es später selten sein wird.
Magda Abiri, Mutter von Arian
Einem gebildeten Lehrer begegnen
Ich halte es für wichtig, dass jeder Schüler einmal einer Lehrperson begegnet, die eine gebildete Persönlichkeit ist und die Vorbildcharakter hat. Das mag jetzt vielleicht etwas altmodisch klingen, aber für mein Leben waren solche Begegnungen die eigentlich wichtigen.
Christian Schacherreiter, AHS-Direktor
Ein Problem zu lösen lernen
Es gibt einen Satz, der klingt zwar eher nach NLP-Quatsch, aber er ist nicht unwahr: Es gibt keine Probleme, sondern nur Herausforderungen. Was jeder Schüler einmal gelernt haben soll ist, dass Probleme dazu da sind, dass man sie löst. Da geht es um die eigenen, die ein Mensch eben hat, so klein sie auch sein mögen. Und, je älter man wird, auch um solche, die an ihn oder sie herangetragen werden, um intellektuelle Probleme.
Christoph Badelt, Rektor der WU
Jemanden trösten
Einmal jemand anderen trösten. Dabei lernt der eine, Verantwortung zu übernehmen – der andere fühlt sich aufgehoben.
Christiane Spiel, Bildungspsychologin
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2013)