André Stern: Von einem, der nie zur Schule ging

André Stern
André Stern(C) Lindbergh
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Stern hat nie eine Schule besucht, und wird das auch mit seinem Sohn so handhaben. Als Schulfeind sieht er sich dennoch nicht. Er will Möglichkeiten aufzeigen.

Es ist eine Anekdote, die André Stern immer wieder erzählt: „Ich heiße André, ich bin ein Bub, ich esse keine Bonbons und ich gehe nicht zur Schule.“ So habe der Standardsatz gelautet, mit dem er sich als Kind den Erwachsenen meist vorstellte. Um Fragen gleich vorweg zu beantworten, zumal jene, warum er vormittags nicht in der Schule sitze.

Wer den jüngsten Film des österreichischen Filmemachers Erwin Wagenhofer gesehen hat („Alphabet“), dem ist André Stern ein Begriff. Der heute 42-jährige Gitarrenbauer, Musiker und Autor, geboren in Paris als Sohn des in der Nazizeit aus Deutschland geflüchteten Kunstpädagogen Arno Stern, hat niemals eine Schule besucht. Und auch sein bald vierjähriger Sohn Antonin, über den er nun im aktuellen Buch zum Film erzählt, wird das wohl nie tun.

Doch von vorn. Nicht nur entschieden sich Sterns Eltern, den Sohn nicht zur Schule zu schicken, auch zu Hause gab es keine Strukturen, die an eine Schule erinnerten. Keinen Stundenplan, keine Aufgaben, und Prüfungen schon gar nicht. „Meine Eltern wollten nicht von irgendeiner Methodik, einer Theorie oder Ideologie ausgehen“, erzählt Stern. Sie seien immer nur vom Kind ausgegangen. Gespannt darauf, was der nächste Schritt sein würde, was der Sohn als Nächstes entdecken und erlernen wolle. „Der Gedanke war nie, wie man den nächsten Schritt wohl einleiten könne“, sagt Stern.

Kein Laissez-faire

Totales Laissez-faire? „Nein“, sagt Stern. Das nicht. Strukturen habe es sehr wohl gegeben, Rituale, familiäre Regeln oder eigene. So sei er schon als Kind jeden Tag um sechs Uhr aufgestanden, um Gitarre zu üben. Er habe Kurse besucht, in Musik oder Sport, oder Vorlesungen im Collège de France. Nur eben ohne Vorgaben, was wann (oder bis wann) gelernt werden müsse. Und so fing auch das Lesen nicht mit A, B und C an, oder – wie in den meisten Schulen – mit M, A, I. Sondern mit Eiern und Eierbechern, die André im Alter von drei Jahren in den Büchern entdeckt: die Buchstaben O und C. Und bleibt bis zum neunten Lebensjahr (als André Stern dann einfach ein Buch aufschlug, um flüssig vorzulesen) beim Entziffern einzelner Wörter.

Ähnlich funktioniert es bei Sterns Sohn Antonin. Der beginnt irgendwann, laut vor sich hin zu zählen: zwei, vier, sechs, nur diese drei Zahlen, und auch nicht korrekt ausgesprochen. Dass ihn die Eltern nicht korrigieren, dass sie nicht die komplette Zahlenfolge vorsagen, irritiert Außenstehende. Das sei nicht gut, der Sohn würde all das falsch einlernen, heißt es. „Ihre Absicht mag nett sein, aber sie würde mit der aufsprudelnden Begeisterung des Kindes einfach nutzlos und sinnlos interferieren“, repliziert darauf Stern. Eher ungewöhnlich? Aus der Sicht von Stern: nein. Eigentlich recht natürlich.

Natürlich, das ist ein Begriff, den Stern überhaupt immer wieder gern verwendet: Es gehe um die natürlichen, um die spontanen Veranlagungen, die jedes Kind in sich trage, sagt er: um die Begeisterung, die Spielfähigkeit, die Neugier. Und das mache seine Geschichte und die seines Sohnes auch erst interessant: dass es sich um ganz natürliche Potenziale handle, dass all das eigentlich total banal sei. „Dass jedes Kind das so erleben könnte.“ Das scheint schwer zu glauben: Es scheint ein förderliches Umfeld zu brauchen, damit das funktionieren kann. Eltern, die bereit und fähig sind, Fragen zu beantworten und Ähnliches mehr. Auch hier sagt Stern: Nein. Seine Eltern – und auch er – hätten sich nicht für diese Form entschieden, weil alle Bedingungen versammelt gewesen seien. Im Gegenteil: Sie hätten sich schlicht für den Respekt der „spontanen Veranlagung“ entschieden. Und das könne jeder tun.

In einer Zeit, in der zunehmend über Bildungsstandards diskutiert wird, darüber, was jeder Schüler können muss, um ins Leben hinausgelassen werden zu dürfen, drängt sich eine Frage noch mehr auf: Was ist mit all den Dingen, die ein Kind nicht interessieren? Lernt man, wenn man nur nach eigenem Interesse lernt, je die Integralrechnung? „Ob ich Bildungslücken habe? Zahlreiche“, sagt Stern. „Mindestens so viele wie alle anderen auch.“ Nur betrachte er Lücken immer als Raum für neues Wissen. „Lernen hört nie auf, das hat auch die Hirnforschung bewiesen.“

Kein Schulfeind

Seine Erfahrung ohne Schule will Stern dennoch nicht als Idealbeispiel verstanden wissen. „Ich bin kein Schulfeind“, sagt er. „Ich arbeite mehr denn je mit Menschen zusammen, die Schule gestalten, um meine Erfahrungen in die Bildungslandschaft einzuspeisen.“ Und er will über seine Erfahrung erzählen, um Möglichkeiten aufzuzeigen. Es gebe immer wieder Menschen, die sich melden und sagen: Sie hätten sein Buch gelesen und ihr Kind bewusst in die Regelschule gegeben. „Damit habe ich mein Ziel erreicht: Sie haben gesehen, dass es Möglichkeiten gibt – und sich bewusst für eine entschieden. Statt die scheinbar einzige Option zu wählen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2013)

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